Arte Povera oder über die weibliche Schönheit zurück

 

Kunstraum B zeigt eine Bilderinstallation von Vladimir Sitnikov

Arte Povera oder über die weibliche Schönheit

 

Von Hannes Hansen

 

Wer Vladimir Sitnikovs Bilderwand „Arte Povera oder über die Weibliche Schönheit“ im Kunstraum B sieht, dürfte auf den ersten Blick verdutzt sein. Verdutzt und ein wenig verwirrt ob der Vielzahl der Abbildungen nackter Frauen und gewichtig dreinblickender Männer. Schnell aber erkennt man, dass es kaum auf das Einzelbild ankommt, dass wir vielmehr vor einer Installation stehen. Vor einem Ensemble von Einzelteilen also, das einem konzeptuellen Ansatz folgt und mehr ist als die Summe dieser Einzelteile.

Konzeption. Aber welche? Nun, zunächst hilft der erste Teil des Namens dieser Ausstellung. Vladimir Sitnikov spricht von „Arte povera“. Der Begriff der „armen Kunst“ – so die deutsche Übersetzung – stammt aus den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, als Künstler wie Jannis Kounellis, Giulio Paolini oder Emilio Prini mit „armen“, mit alltäglichen Materialien wie Erde, Asche, Glas- und Holzsplittern, mit Bindfaden und Textilien ihre Installationen komponierten.

So auch hier, bei Vladimir Sitnikovs „Arte povera“. Über einen langen Zeitraum sammelte er Aldi-Rechnungen, ohne zunächst zu wissen, was er damit anfangen konnte. Erst die Ausstellung der Suite Vollard von Pablo Picasso vor einem Jahr in der Kieler Kunsthalle brachte ihn auf den zündenden Einfall. Dazu weiter unten mehr.

Vorerst gilt festzuhalten, dass auch dieses anfangs planlose Sammeln durchaus auf ein noch festzulegendes Konzept zielte. Die eigentlich zum Wegwerfen bestimmten Kassenzettel sind ja „armes“ Material par excellence. Von Anfang an war klar, dass sie unterschiedlichen Zwecken dienen sollten. Zum einen artikulieren sie mit den täglichen Einkäufen Vladimir Sitnikovs Bruchstücke seiner Biografie, geben Auskunft über seine Essgewohnheiten, seine Vorlieben und per negationem seine Abneigungen. Zweitens waren sie, wie hier zu sehen, wiederum von Anfang an als Bildträger für spätere Zeichnungen gedacht. Drittens schließlich lassen sie sich schlankweg als ironischen Seitenhieb auf die Gepflogenheiten des Kunstmarkts interpretieren, der ja nicht ohne Grund eine Namensähnlichkeit zum Supermarkt aufweist.

Die Verwendung und Verwandlung zum Kunstwerk hebt das arme Material auf eine höhere Stufe, es „gradet“ sie „up“ oder „upgradet“ sie, wie ein neues Marketing-Zauberwort lautet, das man im Zusammenhang mit der Kunst- und Supermarkt-Analogie durchaus als passenden Sarkasmus und höhnischen Kommentar empfinden mag.

Der zweite Teil des Namens der Ausstellung lautet nun: „Über die weibliche Schönheit“. Angeregt dazu wurde Vladimir Sitnikov, wie gesagt, von der Ausstellung der Suite Vollard Picassos in der Kieler Kunsthalle vor einem Jahr. Die umfangreiche Folge von Radierungen zeigt fast ausschließlich die Beziehung von Maler und Modell, hier ausnahmslos des weiblichen, so gut wie immer nackten Modells. Meist präsentiert sich der Maler als Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, als kreatives Gewaltwesen, das sich die Frau unterwirft, die sich dem erhabenen Schöpfer willenlos ergibt. Nur ganz selten einmal zeigt Picasso auch die andere Seite der Medaille, zeigt er die Vergeblichkeit der Gewalt, die in Melancholie, Blindheit und Trauer mündet.

Während Picasso mit der Suite Vollard einem uralten Mythos folgt, der sich in den Malereien des Palastes von Knossos, in ägyptischen Bildern und mesopotamischen Skulpturen manifestiert, geht Vladimir Sitnikov anders vor. Auch er folgt einem Mythos, dem der Schönheit. Jahrhunderte lang galt als Maß der Schönheit der weibliche Körper, vorzugsweise der nackte. Denken wir nur an Velazquez’ „Venus im Spiegel“, an Tizians „Venus von Urbino“, an Giorgiones„Schlummernde Venus“ oder Botticellis „Geburt der Venus“. Die Darstellung der weiblichen Nacktheit dient in diesen Bildern, nicht nur, aber auch der mythologischen Verbrämung der Aneignung des weiblichen Körpers durch Künstler und Gesellschaft. Deutlicher wird solche Aneignung dann in Giorgiones „Ländlichem Konzert“ und Manets „Frühstück im Grünen“. Beide Bilder zeigen nackte Frauen in Gesellschaft bekleideter Männer. Noch deutlicher wird es bei François Bouchers „Liegendem Akt“ der Miss O’Murphy, der einzig dazu dienen sollte, dem französischen König eine Maitresse anzuempfehlen. Drastisch dann ist es bei Courbets Bild einer mit geöffneten Beinen sich dem Betrachter darbietenden Frau, dem auch der neckisch mythologisierende Titel „L’Origine du monde“ – zu Deutsch „Ursprung der Welt“ – nichts von seiner pornographischen Anmutung nimmt.

Männer hingegen wurden fast ausschließlich bekleidet und als Macht- und Respektspersonen, kurz als „erhaben“ abgebildet. Denken wir nur an Tizians und Velazquez’ Papst- und Königsporträts als Beispiel, an die zahlreichen bildnerischen Würdigungen preußischer und anderer Herrscher.

Ein kurzer Ausflug in die Ideengeschichte mag diesen Kontrast näher beleuchten. In der Mitte des 18. Jahrhunderts veröffentlichte der irisch-britische Philosoph Edmund Burke seinen Essay über „Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen“. Kurz und unerschrocken dekretierte er, erhaben sei alles, was großartig, schauer- und schreckenerregend und überdies einem männlichen Prinzip folgend sei, etwa ein Gebirge. Schön hingegen sei eine Landschaft, die runde, sanfte, kurz weibliche Formen habe.

Zunächst meint man, Vladimir Sitnikovs Installation folge mit seinem Kontrast bedeutsam blickender Männer und nackter Frauen dem Burkeschen Dictum. Bei den Männerbildern ist das wohl auch so. Die mit schnellem Filzstift hingeworfenen Zeichnungen nach Fotos aus dem Internet – auch dies übrigens ein Verweis auf die „Arte povera“ – zeigen Künstler des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Caspar David Friedrich etwa oder Ilja Repin, Pablo Picasso und Vladimir Tatlin und viele andere. Sie repräsentieren das angeblich männliche Schöpfertum.

Mit den Bildern nackter Frauen unterläuft Vladimir Sitnikov jedoch die Dichotomie männlich-weiblich, erhaben und schön. Die seinen Zeichnungen zugrunde liegenden Fotos stammen aus dem in erster Auflage 1911 erschienenen Buch „Die Rassenschönheit des Weibes“ von einem Dr. C. H. Stratz. Mit den Bildern nackter junger Mädchen und Frauen aus allen Erdteilen und Kulturen und mit genauen Vermessungen von Körperproportionen wollte er die naturgegebene größere Schönheit der europäischen Frau gegenüber ihren Geschlechtsgenossinnen in Asien, Afrika, Australien und Amerika beweisen. Die von Rassismus durchtränkte, reich bebilderte Abhandlung – darunter sind Fotos, wegen derer der Autor heute wegen Kinderpornographie vor Gericht käme – unterwirft sie schamlos dem männlichen, hier kolonialistisch kodierten Blick.

Dass Vladimir Sitnikov beide Bildtypen kommentarlos kontrastiert, mag einen Schock auslösen. Und einen Erkenntnisgewinn. Freilich keinen unmittelbaren. Ein Grundprinzip der Kunst der Moderne formulierte der französische Denker Jean-François Lyotard, bekannt geworden durch sein Konzept des Endes der großen Erzählungen, das nun nach gut sechzig Jahren landauf landab im Politikerjargon als „Narrativ“ eine Wieder(Miss)geburt erlebt. Er forderte, nicht allein die sinnliche Wahrnehmung und die ästhetischen Qualitäten von Kunstwerken, sprich ihre „Schönheit“ in den Mittelpunkt der Betrachtung von Kunstwerken zu stellen. Wichtiger sei die Verbindung von Reflexion und Denken. So erweist sich Vladimir Sitnikovs Wort von der weiblichen Schönheit als vergiftete Lockspeise. Naive Menschen führt sie auf einen Irrweg, nachdenkliche zur Erkenntnis.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kunstraum B,

Vladimir Sitnikov, „Arte Povera oder über die weibliche Schönheit“,

4.-21. März, Do-Sa 15 – 18 Uhr