Keine Kunst I Vladimir Sitnikov I Kieler kunstmanifest

 

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Einführung: Ulrich Kuder

Eröffnung ‚Keine Kunst‘ von Vladimir Sitnikov, Kunstraum B, 11.1.2012

Lieber Vladimir Sitnikov,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde der Kunst bzw. Freundinnen und Freunde von ‚Keine Kunst‘, die Sie also gekommen sind, Kunst und zugleich, um ‚Keine Kunst‘, eine Kunstausstellung zu sehen, die ‚Keine Kunst‘ zeigt!

Unter diesen Umständen können wir heute Abend lernen, was Dialektik ist, ein Denken nämlich in unaufgelösten Widersprüchen, mit dem Willen, sie aufzulösen, doch mit offenem Ergebnis. Wir stoßen in dieser Ausstellung mit Arbeiten Vladimir Sitnikovs auf Widersprüche, in vielfacher Hinsicht. Widerspruch im Sinne von Widersprüchlichkeit, Ambivalenz, Unklarheit – auf einem der Bilder und auf der Einladungskarte steht mit Bedacht ‚Unklar‘ – Widerspruch aber auch im Sinne von Widersprechen, Entgegnung, Widerstand-leisten – wie auf einem der Bilder zu lesen ist: ‚Kunst ist sperrig‘.

Sind es überhaupt Bilder? Oder nicht vielmehr Texte? Unklar ist nicht nur die Message, unklar ist auch das Medium – ist‘s das Bild oder ist‘s die Sprache? Beispiele für die Verbindung von Sprache und Bild gibt es seit alters, etwa in der Buchmalerei oder, wenn Bilder mit Beischriften kombiniert sind. Sprache steht in diesen Fällen als Schrift zwar bei, aber neben oder unter dem Bild. Mit diesen Bildern Vladimir Sitnikovs aber verhält es sich anders. Sie sind Sprache als Bild, Bild als Sprache, beides als Einheit. An sich sind die Unterschiede zwischen Sprache und Bild einigermaßen klar. Ein vielfach erörterter Unterschied beruht auf dem jeweils verschiedenen Verhältnis zur Zeit: Mittels der Sprache wird in der Zeit etwas mitgeteilt, in Texten, die einen Ablauf haben von Anfang bis Ende, das Bild hingegen ist als Ganzes gegenwärtig, im Augenblick, in dem es gesehen wird. Es fängt nicht an einer bestimmten Stelle an und endet an einer anderen. Ferner: Weil das Bild nicht sagt, was es mitteilt, lässt es einen über seine Botschaft im Unklaren. Seine Unklarheit ist eine prinzipielle. Die Sprache hingegen muss sich um Unklarheit erst bemühen. Angestrengt verschleiert sie ihre Botschaften.

Die Bilder dieser Ausstellung, die zugleich Sprache sind, teilen als Sprache etwas mit, insofern sie aber Bilder sind, ist diese Mitteilung als Ganze im Augenblick gegenwärtig. Die Buchstaben füllen jeweils die Fläche, die als gemalte Bildfläche demonstrativ vorgeführt wird. Die Faktur des Pinsels prägt die Buchstaben und doch sind diese Bilder nicht gepinselt, sondern geschrieben. Dies insbesondere aus russischer Perspektive, denn im Russischen sagt man vom Künstler: ‚pisat kartini‘ – er schreibt ein Bild. Auch die Ikonenmaler bezeichnen ihre Tätigkeit als Schreiben. Ikonen und Bilder mit künstlerischem Anspruch werden, dieser Terminologie folgend, nicht gemalt, sondern geschrieben. Malen gilt als die Tätigkeit des Handwerkers, des Anstreichers.
   
Vladimir Sitnikov ist mit diesen geschriebenen Bildern, die ja ganz anders sind als die, die wir bisher von ihm kennen und auch anders als die, die sonst in Ausstellungen zu sehen sind, sich selbst treu geblieben, seinem Stil, aber auch seiner geistigen und künstlerischen Tradition, der Russlands. Auch die Palette ist unverkennbar die seine: sein Braun, sein Grün, sein Blau und das hat, wie ich mir sagen ließ, etwas mit Russland zu, mit den Farben russischer Treppenhäuser und Flure. Die Buchstaben auf diesen Bildern entsprechen Vladimir Sitnikovs Handschrift, die, wiederum russischer Schulübung und Schreibpraxis entsprechend, genormt ist. Er hat bewusst keine Druckschrift gewählt, obwohl ihm das als einem Gestalter von Büchern und Künstlerbüchern leicht gefallen wäre. Die Schrift sollte nichts Gewähltes, Gestyltes an sich haben, Normalschrift, Gebrauchsschrift sein, von der Unmittelbarkeit spontanen Ausdrucks zeugen, obwohl Sprache, so doch als Bild im Augenblick aufleuchtend.

Die Bildgestaltung beginnt, unter anderem, mit der Wahl des Formats. Die beiden größten Formate dieser Ausstellung hängen hier: ‚Ende der Kunst‘ und ‚Kunst ist sperrig‘. Beide setzen durch das Quadrat, eine Ur- und Idealform nach Plato und bei Malewitsch, einen Schlusspunkt. Jenseits der Sperre kommt nichts mehr. Sie wirkt wie ein Urknall am Ende, mit zentrifugal fliehenden Pinselstrichen. ‚Nur Wartezimmerkunst‘ ist nicht zufällig mehr oder weniger in Rosa gehalten, das die oberflächlich versüßende Funktion der Kunst zum Ausdruck bringt, die in den Wartezimmern ihren Zweck erfüllt, ohne die Leiden der wartenden Patienten heilen zu können. Die Bildgestalt entspricht jeweils der sprachlichen Mitteilung, was zeigt, mit welcher Sensibilität der Künstler auch bei seinen geschriebenen Bildern zu Werke gegangen ist.

Die Bilder können und sollen abgehängt, umgehängt werden, es gibt auch, verkleinert, Aufkleber, an die Kleidung zu heften, mit den Texten ‚Kunst muss draußen bleiben‘, ‚Kunst ist künstlich‘ und ‚Kunst muss raus‘. Sie sind also, liebe Freundinnen und Freunde von ‚Keine Kunst‘, unversehens mit Ihrer Teilnahme an dieser Eröffnung in eine Demonstration hineingeraten, freilich nur in eine interne, auf den Kunstraum beschränkte. Bewusst heißt diese Ausstellung im Untertitel ‚Kieler Manifest‘. Nur: Was ist der Inhalt dieses Manifests? Wofür oder wogegen sind Sie aufgefordert, zu demonstrieren? Aber vielleicht handelt es sich um eine Demonstration wie die der ‚Occupy‘-Bewegung, die protestiert, und zwar berechtigt, aber bewusst keine bestimmten Forderungen benennt.

Hier wie da ist die Ausgangssituation eine Notlage, die durch einen falschen Schein verschleiert wird. Die Notlage soll benannt, der falsche Schein zerstört werden. Er besteht darin, dass für in Ausstellungen gezeigte Bilder normalerweise Preise angegeben sind, obwohl letztlich nichts verkauft wird. Die Notlage der Künstler: Hierzulande können nicht einmal zwei Prozent der Künstler von ihrer Kunst leben. In Kiel, wo es so gut wie keinen Markt für aktuelle Kunst gibt und kaum Kunstsammler, können die Künstler der Kunst nur den Rat geben, den Lucas Moser im Spätmittelalter, im Jahre 1431, auf den Rahmen seines Tiefenbronner Altars schrieb: ‚Schri kunst schri und klag dich ser din begert jecz niemen mer so o we‘.

Doch sind, anders als die Klage Lukas Mosers, die Parolen der heutigen Demonstration, die Thesen des Kieler Kunstmanifests, was ihren Sinn betrifft, zwiespältig und widersprüchlich. Sie können so oder auch anders verstanden werden. Oft ist für den Sinn entscheidend, wer etwas sagt und in welcher Situation.

Wofür demonstriert jemand, der sich das Bild ‚Kunst ist künstlich‘ umhängt oder sich den entsprechenden Aufkleber anheftet? Vielleicht will er sagen: ‚Kunst ist unnatürlich, gekünstelt, aufgesetzt‘, also nichts für mich. Vielleicht aber drückt er mit ‚Kunst ist künstlich‘ gerade seine Bewunderung für die Kunst aus, für das Artifizielle, Spielerisch-Leichte der Kunst.

Mit dem als Umhängeschild benutzten Bild ‚Unklar‘ könnte jemand sagen wollen:
‚Mir ist das alles zu unklar, also gehe ich weiter, es interessiert mich nicht‘.
Doch vielleicht meint er das ‚Unklar‘ ganz anders:
‚In der Unklarheit der Kunst liegt das Faszinosum, das meinen Blick bannt und mich immer wieder zur Kunst hinzieht‘.
Auf einem anderen Bild ist zu lesen: ‚Kunst raus‘. Wer sich diese Aussage zu Eigen macht, kann damit meinen:
‚Weg mit der Kunst, ich kann sie nicht brauchen‘.
Vielleicht aber will er damit sagen:
‚Kunst muss raus aus dem geschützten Bezirk der Galerien und Museen, auf die Straße, in den öffentlichen Raum, in die Landschaft, Kunst braucht Bewegung in frischer Luft, sie soll nicht hinter dem Ofen sitzen bleiben.‘

Bei manchen Äußerungen kommt es auf die Betonung an. In der Haltung besserwisserischer Arroganz könnte man sich das ‚Kunst, so–so‘ gesprochen denken. Vorstellbar wäre es aber auch im Munde eines Kunsterziehers, der seinen Schülern vormacht, wie sie zu gestalten, die Komposition aufzulockern haben. Er sagt: ‚Kunst, so-so‘.

‚Kunst ist unwichtig‘, ‚Kunst kann warten‘ – solche Äußerungen kommen wohl von einem Programmdirektor, der erst eine Sendung über die Euro-Krise bringen will oder einen Sportbericht und allenfalls danach etwas über eine Kunstausstellung. Priorität haben für ihn also Geld oder Fußball, was für manche auf dasselbe hinausläuft.
Ein Stadtkämmerer oder Bürgermeister findet:
‚Erst die Kindergärten, die Schulen, die sozialen Dienste, die Straßenreinigung, die Bildung, die Sicherheit, Kunst ist unwichtig‚ Kunst kann warten‘. Das hört sich recht schnoddrig an, ein Diktum von jemandem, der der Kunst eher fern steht, aber - hat er nicht recht? Ist nicht was Wahres dran an solchen und ähnlichen Parolen, auf die wir hier gestoßen werden und die wir uns umhängen sollen, Thesen, die die Kunst in die Ecke der Unverbindlichkeit stellen, Meinungen, die sie als - letztlich verzichtbare – Randerscheinung bezeichnen, als ‚Nur Wartezimmerkunst‘? Mit einem Wort: ‚Überflüssig‘. Gibt es nicht Äußerungen von Leuten, denen man nicht absprechen kann, von der Sache etwas zu verstehen, die in dieselbe Richtung gehen?

Artikulieren Sprüche wie ‚Keine Kunst mehr‘ oder ‚Schluss mit Kunst‘ nicht blitzhaft das, was wir selbst schon gedacht und weitschweifig mit vielem Wenn und Aber in wohlgesetzter Rede ausgeführt oder auch bei anderen gelesen haben? Hegel etwa, also Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der bekanntlich kein Stadtkämmerer oder Bürgermeister war, auch kein Finanzminister, drückt sich in seinen ‚Vorlesungen über Ästhetik‘ durchaus gewählt aus:
„Man kann wohl hoffen“, sagt er, „daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein“.
Genau das meinte er mit seiner These vom Ende der Kunst. In der Antike, so Hegel, vermochte die Kunst noch zum vollkommensten Ausdruck des absoluten Geistes, der Wahrheit, zu gelangen, aber inzwischen habe sie ihren Dienst getan, die Form der Kunst – heute würde man sagen: das Medium Kunst - habe aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Trotzdem sein Wunsch: Alles Gute für die Zukunft der Kunst! Man kann wohl hoffen, dass sie immer mehr steigen und sich vollenden werde. Ist diese mit einer gewissen Kühle vorgetragene Hoffnung Hegels in Erfüllung gegangen? Wohl kaum. Allerdings ist auch das Ziel der von Hegel, mit welchen Untertönen auch immer, ins Auge gefassten Entwicklung unklar geworden. Kunst, die sich vollendet, den Künstler, der die Kunst zur Vollendung bringt – was haben wir uns darunter vorzustellen?

Kant verstand die Kunst, und zwar die Kunst in ihrer Vollendung, als eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck, also zweckgerichtet soll sie sein, aber zugleich zweckfrei, nicht auf einen bestimmten Zweck aus, dem sie dann dienstbar wäre, also kurz gesagt, sie soll frei sein, aber nutzlos. Für den Künstler, den Produzenten der vollendeten Kunst sieht das dann seitdem so aus, wie es Kants Zeitgenosse Karl Philipp Moritz im Jahre 1785, also vier Jahre vor der Französischen Revolution, formuliert hat:
„Der wahre Künstler wird die höchste innere Zweckmäßigkeit oder Vollkommenheit in sein Werk zu bringen suchen; und wenn es dann Beifall findet, wird’s ihn freuen, aber seinen eigentlichen Zweck hat er schon mit der Vollendung des Werks erreicht.“

Was aber, wenn sein Werk keinen Beifall findet, von „niemen mer“ begehrt, nicht gekauft wird? Kann er sich dann wirklich mit den Worten von Moritz trösten, er habe seinen eigentlichen Zweck schon mit der Vollendung des Werks erreicht? Dass dieses Werk, gerade weil es seine Zweckmäßigkeit ganz in sein Inneres verlegt hat und keinem äu0eren Zweck dienlich, somit vollendet ist und demzufolge nutzlos, sichert ihm ja nicht unbedingt Käufer, zumal nicht in Zeiten, in denen die Kunst als Medium aufgehört hat, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.
 
Dass der Beifall für die Kunst, den Karl Philipp Moritz als etwas Zusätzliches, nicht Notwendiges, als willkommene Zugabe bezeichnet, in Wirklichkeit für den Künstler lebensnotwendig ist, darf nicht verschleiert werden. Wenn er dauerhaft keinen Beifall findet, ist er gezwungen, der Kunst, jedenfalls der zweckfreien Kunst, der Kunst in ihrer Vollendung, abzusagen. ‚Kunst ist gefährlich‘ – nicht zuletzt für den Künstler selbst. Vor dieser ständigen Gefährdung, diesem permanenten ‚Kunst macht fertig‘, der nicht abweisbaren Möglichkeit, die zur Notwendigkeit werden kann, die Kunst aufzugeben, darf niemand die Augen verschließen, der mit Kunst zu tun hat. Nur Kunst, die die Absage an Kunst in sich schließt, ist es wert, wahrgenommen zu werden.  

Im ersten Raum der Ausstellung, als Vorspiel, das aber auch als vorweggenommene Zusammenfassung gelesen werden kann, hängen, außer dem titelgebenden Bild ‚Keine Kunst‘, Bilder, auf denen Staffeleien dargestellt sind. Abgesehen von einer sind diese Staffeleien ohne Bilder, leere Gestelle. Die eine Akademiestaffelei, auf der noch ein Bild steht, ist von hinten zu sehen, so dass vom Bild nur der Keilrahmen erkennbar ist. Auch scheint es, vom Bildhalter gelöst, wegzukippen. Wo ‚Keine Kunst‘ ist, bleibt die Staffelei leer, Symbol der unmöglich gewordenen Produktion. Allenfalls ein paar Kreise, Reminiszenzen an Malevitschs vollkommene Formen, schweben unerreichbar im Raum. Auf der Moskauer Akademie, an der Vladimir Sitnikov studiert hat, wurde die Staffelei als Guillotine bezeichnet, weil ihre Bildauflage herunter sausen konnte, was nicht ungefährlich war, aber auch, weil sie mit einem Marterinstrument assoziiert wurde. Gewiss kennt die Kunstgeschichte viele Atelierbilder mit Staffeleien. Diese funktionieren jedoch auf diesen Gemälden in aller Regel als Bildträger. Ich kenne, außer den hier gezeigten von Sitnikov, nur ein einziges Bild mit einer leeren Staffelei, nämlich Ferdinand von Rayskis Kreidezeichnung ‚Selbstmord des Künstlers im Atelier‘, um 1840. Der Künstler hat sich dort an der Staffelei erhängt. Ihn hatte der gute Rat ‚Werde kein Künstler‘ nicht erreicht.

Sie warten auf ein Happy end. Ich zögere. Wo ‚Keine Kunst‘ ist, kann es auch den Trost der Kunst nicht geben. Ich will vielmehr schließen, indem ich den doppelbödigen Parolen, den Schreien, Thesen dieser Ausstellung ein Diktum aus einer Aktion von Timm Ulrichs hinzufüge, der, als Blinder verkleidet, ein Schild trug mit der Aufschrift: ‚Ich kann keine Kunst mehr sehen‘. In der Tat. Die Ausstellung ist damit eröffnet.

 

Gesamtauflage: 30
Seitenzahl: 76
Breite: 17 cm, Höhe: 22,5 cm, Tiefe: 0,7 cm
Sprache des Textteils: Deutsch

Druckverfahren: Digitaldruck

Art der Bindung: Klebebindung

Herstellung: Universitätsdruckerei Kiel