Bildersatz / Фрагменты 

 

 

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Aus dem Projekt "BILDERSATZ", 2013, Öl auf Leinwand

 

 

Vladimir Sitnikov: BILDERSATZ. Kiel, Universitätsbibliothek

 

Peter Thurmann, Eröffnungsrede 17.10.2013

 

 

 

Was eigentlich macht eine gute Illustration, einen guten Illustrator aus? Im besten Fall ist der Autor sein eigener Illustrator. Ein bekanntes Beispiel ist Wilhelm Busch, in dessen Bildergeschichten Text und Bild untrennbar zusammengehören. Viele, besonders Kinderbuchautoren, könnte man nennen, die zum abstrakten Text authentische Bilder kreiert haben. Sind Autor und Illustrator – vorausgesetzt, er besitzt dies Doppeltalent – nicht identisch, stellt sich ein Problem: das der Interpretation. Im Gegensatz zur Alltagssprache, die sich – hoffentlich – um Allgemeinverständlichkeit bemüht, stellt Literatur meist mehr Fragen als sie Antworten gibt. Das gilt für die bildende Kunst ebenso. Literatur spricht nicht dieselbe Sprache wie wir, und von dem, was wir „Sprache der Bilder“ nennen, ist sie womöglich noch weiter entfernt. Es geht also um Annäherungsprozesse zwischen Text und Bild, oft über Zeiten hinweg; der Illustrator fremder Bücher muss ein enges Verhältnis zur Vorlage entwickeln und zugleich Distanz wahren. Illustrationen sollten weder schönes – im Volksmund „illustratives“ – Beiwerk sein noch den Text dominieren; das Bild ersetzt den Text nicht. Ein gut illustriertes Buch resultiert aus einer idealen Ergänzung, und eine solche geglückte Zusammenarbeit nennen wir kongenial.

 

Vladimir Sitnikov hat 2008 ein frühes Werk von Nikolaj Gogol illustriert. Aber ist das der richtige Ausdruck? Wir finden in der Petersburger Novelle Das Porträt (1835) zunächst kaum einen Bezug zum Text. Denn Sitnikov versetzt sich in die Rolle des Malers Andrei Petrowitsch Tschartkow, der sich schließlich selbst um sein Talent bringt; er illustriert sozusagen den Meta-Text, in einer durchaus klassizistischen Manier, die auch dem Titel der Novellensammlung, Arabesken, gerecht wird. Gogols Anti-Held spiegelt die Gefährdung des modernen Künstlers zwischen Autonomie und Anpassung, und Sitnikovs Identifikation mit Tschartkow ist keine Spielerei. Zugleich bringt er uns ein hierzulande kaum bekanntes Werk Gogols nahe, von dem wir bestenfalls die Komödie Der Revisor oder die Grotesken Die Nase oder Der Mantel kennen, die als frühe Vorstufen des Surrealismus gelten. Andererseits weist Das Porträt Analogien zu Adalbert von Chamissos Schlemihl und Hans Christian Andersens Märchen Der Schatten auf.

 

Sitnikov trägt sein russisches Kulturerbe mit sich. Auch von Michail Bulgakow, dem Autor des Romans Der Meister und Margarita, hat er 2010 ein bei uns weniger bekanntes Werk illustriert, Die verhängnisvollen Eier (1924). Bulgakow kleidet, in Gogolscher Tradition, seine – kaum verdeckte – Zeitkritik ebenfalls in das Gewand der Groteske. Der Zoologie-Professor Wladimir Ipatjewitsch Persikow entdeckt bei seinen Tierexperimenten den „roten Strahl“, der die Evolution im Sinne einer Auslese der Besten und Stärksten vorantreibt. Durch vorzeitige Veröffentlichung entgleitet ihm die Kontrolle über die Weiterentwicklung, und eine Katastrophe bedroht ganz Russland. Die politische und mediale Aktualität reicht bis heute, die wissenschaftliche Brisanz nimmt Aspekte der der Gentechnologie vorweg. Vladimir Sitnikov kombiniert, wie meist, Zitate auf Russisch mit schlaglichtartigen Illustrationen, gedruckt auf überwiegend kopfstehenden, englischsprachigen Seiten aus Büchern und Broschüren zu Typographie und Internet. Aus eigener Erfahrung als gelernter Buchgrafiker und aus der russischen Geschichte kennt er die propagandistisch verwendete Typographie, zum Beispiel den genialen, dynamisierenden Einsatz typographischer Elemente durch Alexander Rodtschenko, und die Staatsdoktrin, der er sie dienstbar machte. Wie Einhalt gebietend taucht an einer entscheidenden Stelle eine uns irgendwie bekannte weibliche Gestalt auf: Die Allegorie der Malerei von Jan Vermeer, seitenverkehrt, statt dem Buch ein Riesenei mit der Aufschrift „Vorsicht Eier“ in der Hand. Im Wissen um den Lauf der Geschichte verbindet Sitnikov Historisches, Kunsthistorisches und Brandaktuelles.

 

Allein die Hälfte der Vitrinen nehmen Buchausgaben der kurzen Geschichten von Daniil Charms ein, der 35-jährig, für geisteskrank erklärt, 1942 in der Haft verhungerte. Bis in die 1970er Jahre und darüber hinaus wurden seine Werke in Russland totgeschwiegen. Die kürzeste der Geschichten, die Sitnikov illustriert hat, Begegnung (1939), lautet:

 

Da ging einmal ein Mensch ins Büro und traf unterwegs einen anderen Menschen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles.“

 

Unter Verzicht auf jegliche Pointe schildert Charms Alltagsbanalitäten, die dadaistisch anmuten, noch konsequenter und puristischer als Kurt Schwitters‘ Banalitäten oder der Nonsens von Christian Morgensterns Palmström. Manchmal lesen sie sich wie missglückte Schulaufsätze eines Halbwüchsigen, dem nichts rechtes einfällt oder dem die Phantasie verquer davongaloppiert, ohne auf einen Punkt zu kommen. Da fallen sechs neugierige alte Damen aus dem Fenster „und zerschellten“, und „als die sechste alte Frau herausgefallen war, hatte ich es satt, ihnen zuzuschauen, und ging auf den Malcevskij Markt, wo man angeblich einem Blinden einen gestrickten Schal geschenkt hatte.“ Geradezu unbarmherzig kann Charms – und Sitnikov folgt ihm darin – mit seinen literarischen Opfern umgehen. Semjon Semjonov nimmt in Optische Täuschung (1939) wiederholt die Brille ab, um einen im Baum sitzenden Menschen, der ihm droht, nicht mehr zu sehen, und kommt zum Schluss: „Semjon Semjonov will dieser Erscheinung nicht glauben und hält sie darum für eine optische Täuschung.“ Im Varieté-Stück Adam und Eva. Vaudeville in 4 Akten (1935) lässt Sitnikov Anton Isaakovich, der seine Freundin Natalija Borisovna überredet, sich als Adam und Eva zu präsentieren (um gleich den ersten Besuch zu Tode zu erschrecken), als Marionetten mit einer verjüngten Natalija/Eva auftreten, die dann zu Albrecht Dürers erstem Menschenpaar mutieren, ehe sie, wie von Charms vorgesehen, wundersam über Leningrad schweben. (Der 4. Teil lautet lapidar: „Adam und Eva sitzen auf einer Birke und singen.“) Und die Verwahrlosung des Mannes, Wenn die Ehefrau irgendwohin allein fährt (1933), weicht nach dem Fund von 30.000 Rubel der Entscheidung, seine Frau, die inzwischen beim Baden von einem Fisch gebissen wurde, nach Hause zurückzuholen. Mit sichtlichem Genuss begleitet Sitnikov das abstruse Geschehen, bis hin zu dem faden Happy End: „und die beiden beginnen ein glückliches Leben“. Charms konfrontiert uns mit einer aufreizenden Kunstlosigkeit, die uns mit ihrem Minimalismus herausfordert, mit ihrer scheinbaren Harmlosigkeit verblüfft und gerade dadurch irgendwie gefangennimmt.

 

Grenzerfahrungen mit der Kunst beschäftigen auch Vladimir Sitnikov. Der Zweck, den sie einmal, von Ideologien eingespannt, erfüllte, scheint ihr abhandengekommen zu sein. Der positive Aspekt daran ist, dass Kunst zweckfrei agieren kann. 2012 veranstaltete Sitnikov in der Galerie Umtrieb seine Ausstellungs-Aktion mit dem paradoxen Titel Keine Kunst – Kieler Kunstmanifest. Dort konnte man sich gemalte Textschilder umhängen, die vom Ende der Kunst zu künden schienen und doch wieder dialektisch auf sie zuführten. Ein ergebenes „L’art pour l’art“ ist Sitnikovs Sache nicht, eher ein „L’art est mort – vive l’art“. Verlust als Anreiz zeichnet auch ein aktuelles Künstlerbuch, Karaoke, aus, das älteren Schwarz-Weiß-Fotos aus Russland die neue bizarr amerikanisierte Szene dort gegenüberstellt.

 

Immer wieder hat sich Sitnikov mit Waffen beschäftigt, die er, wie im Fall der Schokoladen-Pistolen, zu entschärfen suchte. In letzter Zeit scheint er sich auf eine andere, adäquate Waffe zu konzentrieren: die Sprache und ihre Bestandteile. Im Foyer der Universitätsbibliothek sind Sie von einer Installation empfangen worden, die von der Kunstaktion (anlässlich des Prozesses gegen Pussy Riot) Lautbilder – Zwölf tragbare Bilder zum Protestieren, Manifestieren und Meditieren (2012) stammt. Die Träger dieser gemalten Schilder verkörperten und artikulierten die auf ihnen dargestellten Vokale, die nachhaltiger als Konsonanten Resonanz erzeugen können.

 

Im Untergeschoss befinden sich drei mehrteilige Arbeiten des Malers Sitnikov. Orthographie (2012) beschränkt sich auf die Satzzeichen. In gesprochener Sprache treten sie nur indirekt in Erscheinung; dennoch sind sie das struktive Grundgerüst, auf dem – vor allem geschriebene – Sprache funktioniert, operiert, signalisiert – und manchmal irritiert. Ich weiß noch, wie ich entnervt ein Buch von Erich von Däniken aus der Hand legte, weil es von Ausrufezeichen nur so wimmelte, wo Fragezeichen angebracht gewesen wären.

 

Die 18-teilige Serie Azbuka – Russisch für zu Hause (2011) schreitet Sitnikovs Kieler Wohnung ab. Jede Räumlichkeit wird von einem kyrillischen Buchstaben beherrscht – auf Türen, Schränken, Fenstern. Sie haben sich als Elemente der fernen Heimat eingenistet, wie Geister, ob gut oder böse, sei dahingestellt. Als Schmuckelemente wie auf Gemälden von Henri Matisse funktionieren sie ebenso wie als düsteres Menetekel oder melancholisches Sehnsuchtsmotiv. Jedenfalls sind sie frei von Sinn und Zweck, stehen als Zeichen für sich.

 

Neulich hat anlässlich der Ausstellung Wortkünstler / Bildkünstler in Lübeck Herta Müller sich zu ihren in der Overbeck-Gesellschaft ausgestellten Gedichtcollagen geäußert, die sie mit Wortschnipseln aus Zeitungen und Werbebroschüren zusammengestellt hat. Herta Müller erzählte, dass sie die Sinnentschlackung der aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissenen Wörter viel leichter und spielerischer zu literarischen Neuschöpfungen inspiriere, als das bei dem vorgewussten Vokabular und Grammatikreservoir der Fall sei, aus dem ihre literaturnobelpreiswürdigen Bücher entstanden sind. Diese Arbeiten von einem Nullpunkt aus (der Suprematismus lässt grüßen) scheint mir im Kern auch ein Kriterium gerade der letzten Arbeiten Vladimir Sitnikovs zu sein, besonders in seiner Serie BILDERSATZ (2013), die dieser Ausstellung den Titel gab. Ein Satz Bilder, so wie man Briefmarkensätze sammelt, ein Satz, von Bildern gebildet, Satzfragmente, die Bilder ersetzen, Bilder, die Sätze ersetzen; denn dieser wandfüllende Satz ist keiner. Es sind alles Versatzstücke der russischen Sprache, die für uns Unkundige hermetisch bleiben und von denen nur Sitnikov sagen kann, ob sie für ihn noch einen im Sinne der Satzlehre gültigen Sinn haben: je zwei bis vier teils fragmentarische Buchstaben, wie aus einem großen Zusammenhang gerissen – Sitnikov war auch Plakatmaler – und notdürftig wieder zusammengestellt, Vorsilben oder nur Wortbruchstücke, Grundelemente der Sprache, freigesetzt oder noch nicht freigelegt, zurückgeführt noch hinter Bild-Text-Kombinationen wie etwa die Hieroglyphenschrift.

 

Protestieren, Manifestieren, Meditieren – so heißt es auf der Lautbilder-Installation im Eingangsbereich. Vladimir Sitnikov äußert Protest, gegen einen übergestülpten, verqueren Sinn, er setzt Manifeste dagegen, und ein Werk wie BILDERSATZ hat ebenso meditative Qualitäten, die bereits in den Illustrationen zu den dröhnend daherkommenden Grotesken angelegt sind.

 

Die Groteske ist eine Spielart der Tragikomödie. Vladimir Sitnikov ist sicher von einer Art Kulturpessimismus und von Zweifeln an politischen und ideologischen Entwicklungen geprägt. Seine Produktivität ist dadurch nicht gelähmt, sondern gerade angestachelt. Sich wie die großen literarischen Vorbilder mit einem manchmal galligen Lachen, provozierend, aber nicht verletzend, über menschliche Miseren zu erheben, ist nicht der schlechteste Beweggrund künstlerischer Arbeit.