Hände hoch! |
Ausstellung im Bunker D, Kiel 2011
Ulrich Kuder: "Malerei als Rettung von den Bildern" (2011)
Rede zur Eröffnung der Ausstellung ‚Hände hoch’ von Vladimir Sitnikov am 14.4.2011 im Bunker-D, Kiel
‚Hände hoch!’ – kein einladender Titel für eine Ausstellung. Sie sind trotzdem gekommen. Dass keine wirkliche Gefahr von einem so freundlichen Künstler wie Vladimir Sitnikov und von einem so höflichen und geschickten Vermittlungsgenie wie dem Kanzler Heinze ausgehen dürfte, haben Sie wohl vermutet. In der Tat: hier schwingt sich kein Einbrecher mit verdecktem Gesicht und vorgehaltener Pistole durchs Fenster, der uns mit einem ultimativen ‚Halt! Hände hoch!’ aus dem permanenten small talk aufschrecken würde. Wir brauchen uns nicht in Deckung zu bringen, denn die Schützen schießen nicht auf uns. Schießen sie überhaupt? Oder zielen sie nicht etwa bloß? Auf keinem der Bilder sieht man Kugeln durch die Luft fliegen oder einen Feuerstrahl den Gewehrläufen entweichen. Manchmal bleibt, wie in ‚Einsamer Schuss’, die Scheibe, auf die gezielt wird, unsichtbar. Es ist in diesen Fällen uns vorbehalten, das Ziel zu imaginieren.
Oder hat sich die Zielscheibe in den Kopf des Schützen verwandelt? Wohl gar im Sinne der fernöstlichen Kunst des Bogenschießens, von der Eugen Herrigel sagt, sie sei „ein Können, dessen Ursprung in geistigen Übungen zu suchen ist und dessen Ziel in einem geistigen Treffen besteht: so dass also der Schütze im Grunde genommen auf sich selbst zielt und dabei vielleicht erreicht, dass er sich selbst trifft“1? Auch wenn wir nicht so weit gehen und die These, der Schütze treffe sich selbst, für übertrieben halten mögen, wird uns doch angesichts der Bilder dieser Ausstellung bewusst, dass die Waffen und ihr Gebrauch diejenigen, die mit ihnen umgehen, wenn nicht treffen, so doch bilden. Mit zärtlicher Hingabe befühlt in dem Bild ‚Laufweite’ – gemeint ist die Länge des Laufs eines Revolvers – der Besitzer sein auf ihn selbst gerichtetes Schießgerät, wobei seine Selbstreflexion durch den bei seinem Kopf aufgehängten runden bzw. ovalen Spiegel eine metaphorische Unterstützung erfährt.
Die den Bildern immanente Reflexion bewährt sich im Beieinander mit anderen Bildern. Jedes Bild dieser Ausstellung ist ein Fragment eines größeren Bildkomplexes, der sich ins Unendliche hinein erweitern lässt. Diese vielfältige Bildverkettung wird in der Ausstellung durch die Hängung der Bilder, dicht an dicht, vergegenwärtigt, wobei die Bilder auch anders hätten zusammengesetzt werden können. Es ist möglich, sie immer wieder neu zu ordnen, so dass sich andere formale und inhaltliche Entsprechungen und Kontraste ergeben. Es ist aber nicht weniger sinnvoll, sie als einzelne zu betrachten, jedes für sich.
Einen Zielscheibenkopf zu haben, ist keine ausschließlich männliche Angelegenheit. Auch eine Schützin hat ihn, wobei das Ziel, auf das ihr Colt gerichtet ist, außerhalb des Bildes liegt und durch ihre Vorstellungskraft oder durch die des Betrachters hervorgebracht wird. Der Titel des Bildes heißt ‚Bin bereit’. Bereit wozu? Die mentale Bereitschaft zum Schießen manifestiert sich im Kopf, der zur Schießscheibe wurde. Das mag zutreffen, doch wird auch vor Augen gestellt, dass das Schießen ein geistiger Vorgang ist, mit mathematischer Präzision auszuführen und, dass wilder Affekt, der Sache abträglich, das Ziel leicht verfehlen lässt.
Der mit polierten Reitstiefeln kräftig ausschreitende Schütze in ‚Noch schneller’ scheint kopflos, wenn wir nicht annehmen, eine der beiden dunklen Sonnen, die über dem Horizont schweben, sei sein Kopf. Sofern diese Sonnen, als Kreise, auch Zielscheiben sein dürften, liegen sie nicht in der Richtung der Aktion dieses Schützen. Sie sind in seiner und in unsrer Vorstellung um eine dritte Scheibe zu ergänzen, auf die er sich zu bewegt. Keine der dargestellten Personen trägt die Züge eines bestimmten Individuums, auch die Uniformen lassen sich nicht als russische, englische, französische oder wie auch immer, bestimmen. Dass manche Schützen Zielscheiben als Köpfe tragen, liegt auf der Linie dieser Abstraktion und Entindividualisierung. Im übrigen aber greift Sitnikov hier auf die Kunst Kasimir Malevitschs zurück, der in seinen Bildern der späten Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre die Menschen mit ovalen Köpfen versah, so in ‚Drei weibliche Figuren’, 1928-1932. Während jedoch Malevitschs Figuren steif sind, wie eingefroren wirken und sehr wenig von sich preisgeben, sind die Sitnikovs bewegt und so erzählfreudig, dass wir von jeder gleich mehrere Geschichten parat haben könnten, wenn wir wollten.
Der Bedeutungszusammenhang zwischen Kreis und Kopf wird in dem Bild ‚Zielscheibe’ in äußerster Knappheit dargestellt. In Anspielung auf die suprematistische Kunst Kasimir Malewitschs und in ihrer Tradition haben wir hier die Verbindung von Kopf, Hals, Schultern und Rumpf vor uns. Zugleich ist der Kopf, losgelöst von allem, was unter ihm ist, eine Sonne, die über den Zinnen schwebt, und eine Zielscheibe über der Kimme. Der Kreis, die Kugel, Ausgangs- und Zielpunkt unendlicher Bewegung, eine undurchdringliche Masse im leichten Blaugrau ist auch, zumal im Zusammenhang dieser Ausstellung, ein Klumpen, in dem aller Streit, Krieg, Aggression und Angst, alle Emotion zusammengeballt und aufgehoben ist.
II
Nicht nur das Leben, das öffentliche, politische im Großen und im Kleinen und das private ist ein beständiger Kampf. Auch auf dem Felde der Kunst bewegen wir uns auf Kampfgebiet. Wie in der Wirtschaft geht es in der Kunst um Konkurrenz und Konkurrenzdruck, um Seilschaften, Kontakte und Kontaktpflege, Profilbildung, Abgrenzung, Marketing. Doch sind, anders als in der Wirtschaft, in der nicht selten mit harten Bandagen gekämpft wird, auf dem Felde der Kunst die samtenen Polster zur Selbstverständlichkeit geworden. Ein Künstler, der ausspricht, er fände das, was ein anderer macht, unerträglich, ist kaum noch anzutreffen. Konventionellere und weniger konventionelle Ausstellungen lösen einander ab. Im Gefühl des anything goes wurden die geistigen Waffen, mit denen einst die verschiedenen Kunstrichtungen gegeneinander antraten, abgestumpft.
Mit einem nostalgischen Blick zurück erinnert Vladimir Sitnikov an die Zeit vergangener Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der Kunst, an Kämpfe, die in seiner russischen Heimat, dem Herkunftsland des Suprematismus, besonders heftig und auch nicht unblutig geführt wurden. Ein ‚Schwarzes Quadrat auf weißem Grund’, Inbegriff radikaler Reduktion, wird in dem Bild ‚Im Museum’ gemeinsam mit einem großen Revolver präsentiert. Beide sind auf ein wild bewegtes, mit gelben und blauen Lichtern versehenes Tuch gebettet, das seinerseits von stattgehabtem Kampfgewühl zeugt. Es sieht so aus, als ob das schwarze Quadrat durch den braven Revolver gegen Angriffe geschützt würde, doch liegen wir auch nicht falsch, wenn wir hier das sich erbittert bekämpfende Gegensatzpaar Realismus und Abstraktion auf einem Laken vereint sehen.
Verglichen mit dem Urbild, dem ‚Schwarzen Quadrat auf weißem Grund’ von Malevitsch selbst, das einsam, aufragend, monumental, in seiner undurchdringlichen Schlichtheit den Betrachter mit sich selbst, mit der Leere, dem Nichts, dem Obersten – Suprematismus kommt ja von supremus, der Oberste, Höchste, Äußerste –, aber auch mit dem Tod konfrontiert, wird Sitnikovs Quadrat zu dem, was es auch bei Malevitsch eigentlich immer schon war, zu einem Gegenstand in Raum und Zeit. Der Revolver drängt es aus der Mittelachse heraus etwas nach rechts. Dieser selbst, braun mit glänzend gelben Lichtern, vereint pralle Vitalität mit todbingender Gefahr. Malevitschs Quadrat, von Sitnikov gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt, steht auch bei ihm noch für ein esoterisches Meditieren über den Tod, während der Revolver, mit dem es sich paart, die Banalität des Todes verkörpert. Sitnikov erzählt von diesem Rendez-vous nicht ohne Ironie, aber doch auch mit einem Ernst, der daran erinnert, dass es in den Kämpfen von einst, in der Ablehnung jeglicher Nachahmung von Natur in der Kunst einerseits wie auch im Insistieren auf exakter Wiedergabe der Wirklichkeit, die nicht durch träumerische Phantasmen verklärt werden sollte, andererseits um alles, um Tod und Leben, um die letzten Dinge – so ist suprema wiederzugeben - ging.
Die Alternative Realismus und Abstraktion, längst durch den alles fressenden und mit Gewinn weiterverkaufenden Kunstmarkt ad acta gelegt, wird von Sitnikov, der auf beiden Feldern, dem abstrakten und dem realistischen, zu Hause ist, nicht als sich ausschließender Gegensatz gesehen, sondern auseinander gehalten und wieder verbunden, in eine gemeinsame Ordnung gebracht, so etwa, knapp, in dem Bild ‚Drei Farbfelder mit einem Revolver’. Oft bleibt unklar, ob die geometrischen Formen, Kreise, Quadrate, Rechtecke, wie sie in der suprematistischen Kunst Kasimir Malevitschs vielfach nicht ohne ein gewisses Pathos der Einfachheit Verwendung fanden, in Sitnikovs Bildern zu Zielen geworden sind, auf die geschossen wird, oder ob sie als selbständige Elemente die figurativen Bildgegenstände kontrastieren. Ob der Schütze in ‚Mit Schwung’ wirklich von einem spitzen Gegenstand hinterrücks getroffen wird, ist höchst unsicher. Ausschlaggebend für die Positionierung des durch eine Scheibe geführten Stabs war offenbar, im Zusammenhang der Diagonalkomposition einen ergänzenden Ausgleich zu schaffen. Indem Sitnikov die geometrischen Figuren nicht mehr, wie Malevitsch, monumental ausstellt, lässt er sie mehrdeutig werden.
Auch die Gegenstände selbst, wie nicht zuletzt an den in dieser Ausstellung dominierenden Pistolenbildern zu sehen, verwandeln sich durch die Malerei. Die Gefährlichkeit dieses Colts etwa ist in den himmelblauen Streifen, aus denen sich sein Lauf zusammensetzt, aufgelöst. Ein sehr dünnes Gestänge bereits vermag ihm als Halterung zu dienen, ein Stangenwerk, eher geistig als bloß technisch, das in einer geometrischen Figur seine Bodenhaftung sucht und das als Rahmen einen Kreis weiträumig ummantelt. Dieser ‚Metaphysische Revolver’ – so der Titel – kann nicht anders, er muss rechts oben seinen braunen erdhaften Grund wegziehen, öffnen, um einem blauen Dreieck Raum zu geben. Geometrische Grundformen offenbaren sich auch in den Revolvern selbst. Ihre Trommel oder Walze ist, zumal mit den Bohrungen, die als Patronenlager dienen, ein Quell der Kreisformen. Mit ausgeschwenkter Trommel taugt der Revolver nicht unmittelbar zum Gebrauch, weshalb dieses Bild den hintersinnigen Titel ‚Entwaffnet’ trägt.
Der Blick zurück, mit einem lächelnden und mit einem feuchten Auge, im Bewusstsein, dass ja doch alles unwiederbringlich vorbei ist und doch, immer wieder neu weitererzählt, wenn irgend, dann so den rettenden Funken entlässt, dieser nicht emotionslose, wiewohl aus einer Art Weisheit kommende Blick wird leicht seinerseits belächelt, zu Unrecht. In dem Bild ‚Position A’ steht ein Mann, mit Haltung, doch nicht übertrieben stramm, aufrecht, perfekt gekämmt, in zeitloser, keiner bestimmten Nation zugehöriger Uniform, in ein undefinierbares Gelbgrün getaucht, vor einer vertikal angeordneten Bilderreihe: einem neben dem A aufgepflanzten Stab, an dem ein Wimpel befestigt ist, der in dieselbe Richtung flattert, in die der Uniformierte blickt, darüber Malevitschs Quadrat, sein Kreis und sein Kreuz.
Es sind die Zeichen, die in der Reihenfolge Quadrat, Kreuz und Kreis im Jahre 1935 Malevitschs Sarg, den er selbst entworfen hatte, bedeckten. Das Kreuz in der Mitte war damals aus ideologischen Gründen nachträglich getilgt worden. In Sitnikovs Bild füllen diese Zeichen in veränderter Reihenfolge die von dem Soldaten und dem Wimpel frei gelassene Fläche. Kreuz, Kreis und Quadrat nehmen soviel Bildfläche in Anspruch, dass sie oben den Bildrand berühren und rechts nah an ihn herangeführt werden. Durch die Nähe zu dem Wachtposten, zu dem wir leicht eine Geschichte erzählen könnten, verlieren sie mit ihrer Einsamkeit ihr doktrinäres Pathos, bewahren aber ihre Fremdheit, denn, ob sie, ihnen gegenüber, der Uniformierte wahrnimmt, bleibt unklar. Er blickt an ihnen vorbei oder durch sie hindurch wie ein Wachtposten in seinem Schilderhäuschen, an dem die Touristen vorbeiziehen ins Schloss. Er sieht sie ohne sie anzublicken. Dass er Haltung annimmt, lässt vermuten, dass er auf sie reagiert. Doch ist sein Verständnis von Kreuz, Kreis und Quadrat, die ohnehin nicht ausdeutbar sind, begrenzt, so dass eine Spannung zwischen dem mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehenden Uniformierten und den aus der Ferne erscheinenden Zeichen mit Ewigkeitswert, die ihm ganz nahe sind, entsteht. Sitnikov verwendet Malevitschs Zeichen als Zitate und variiert sie. Nur als veränderte werden sie tradiert, über die Zeiten hinweg, wobei ihr Wahrheitsanspruch sich als vergängliches, doch immer noch berührendes Element erweist. Nur Kunst, die wie die Sitnikovs an andere Kämpfe erinnert als an solche um Marktanteile, hat eine Chance und eine Berechtigung. Sitnikov lenkt diese anderen Kämpfe mit Understatement. Alles andere wäre nicht auszuhalten.
Damit steht er in der bedeutenden Tradition der Künstler, die, ohne den Wahrheitsanspruch der Kunst zu leugnen, ihrer Unbedingtheit, ihrem utopischen Ringen die Farbe der gewöhnlichen Wirklichkeit zu geben verstanden. Vergleichbar mit Sitnikovs Bild ‚Position A’ ist zum Beispiel Gauguins ‚La vision du sermon (Die Vision nach der Predigt)’ von 1888, wo eine Gruppe bretonischer Frauen dem Kampf Jakobs mit dem Engel konfrontiert ist, der jenseits eines schräg durchs Bild geführten Baumstamms hinten rechts seine goldenen Flügel auf rotem Grund ausbreitet. Das Verhalten der Frauen ist durch die Ahnung bestimmt, dass hier etwas Außerordentliches sich ereignen dürfte, aber auch durch ihr Nichtverstehen, wobei für Gauguin und seine Freunde, anders als für die bretonischen Frauen, der Kampf Jakobs mit dem Engel eine Chiffre war für das Ringen um letzte, mystische Erkenntnis und um die Erfüllung ihrer künstlerischen Berufung. Schließlich hatten sie Balzacs Widmung an Evelina Hanska zu seinem esoterischen Roman ‚Séraphita’ gelesen, in dem jener geistige Ringkampf als dem Jakobs ähnlich bezeichnet wird.
III
‚Rein formale Auseinandersetzung’ – so der Bildtitel. Aus der Sicht des sozialistischen Realismus ist ein „rein formales“ Bild abzulehnen. Auf diesem Bild führt ein realistisch dargestellter Pistolenschütze eine angeblich rein formale Auseinandersetzung mit einer abstrakten Komposition. Wer hier auf dem Feld der banalen Wirklichkeit unterliegt, ist von vornherein ebenso klar wie, wer sich hier disqualifiziert hat, indem er, statt sich an die Regeln formaler Auseinandersetzung zu halten, nach der Pistole griff. Keineswegs jedoch werden hierdurch Licht und Schatten eindeutig verteilt, etwa so, dass die abstrakte Kunst als die einzig wahre gefeiert, die figürlich darstellende aber als die minderwertige, die sich nur mit brachialer Gewalt verteidigen kann, verurteilt werden sollte. Die abstrakte Komposition auf dem Bild, bestehend aus einem brettartigen Gebilde mit einer kugeligen Ausstülpung und zwei schwarzen Klötzchen als Füßchen ist ja, für sich genommen und isoliert betrachtet, kein Meisterwerk der abstrakten Malerei. Zur Kunst wird sie erst als integraler Bestandteil des ganzen Bildes.
Die Zielscheiben sind in dem Bild ‚Zielstrebig’ wie Tropfen auf dem Boden verteilt bzw. in einer Reihe angeordnet wie die zielende Mannschaft sportlicher Jungmänner hinter ihnen oder wie eine Folge von Einschusslöchern. Auf anderen Bildern erscheinen die Zielscheiben irgendwo am Bildrand, werden gelegentlich durch ihn abgeschnitten. Die Kreise können Zielscheiben, aber auch über dem Horizont stehende Sonnen sein, mit oder ohne Anspielung auf Malevitsch, der sein erstes ‚Schwarzes Quadrat’ auf den Bühnenvorhang zur Oper ‚Sieg über die Sonne’ malte. Die Schützen stellen sich mit einer gewissen Gleichförmigkeit auf, heben gleichzeitig die Arme, ihre Pistolen in gleicher Weise ausgerichtet, drücken ab, unabhängig davon, ob es ihnen gelingt, auf den ‚Treffpunkt’ – so der frühere Titel des Bildes – im Hintergrund zu zielen. Fassen die Schützen in ’Sonnenuntergang’ einen ‚Sieg über die Sonne’ ins Auge? Das Bild versagt eine eindeutige Antwort.
Wie oft in der Kunst, lässt das Dargestellte sich nicht auf eine einzige Bedeutung einschränken. Trägt die Frau in dem Bild ‚Krieg oder Frieden’, die, mit der Linken den Lauf ihre Revolvers umfasst und ihre Rechte am Hahn hat, einen Hut oder einen Heiligenschein? Ist ihr Haupt von der Sonne umgeben oder von einer hinter ihr schwebenden Zielscheibe?
IV
Der Ort, an dem diese Ausstellung stattfindet, der Bunker-D, einer der nicht wenigen Bunker, die in Kiel noch stehen, markiert als Bauwerk die Verbindung von Angst und Aggression. Zum Schutz gegen Angriffe errichtet, stülpt er die von außen kommende Aggression nach innen gegen die Verängstigten, die sich hier zu retten suchten, was an den Inschriften, den vielen Verboten und mit Ausrufungszeichen versehenen Verhaltensmaßregeln, noch immer ablesbar ist: ‚Deutscher, denke und schweige’, ‚Der Aufenthalt im Treppenhaus ist verboten’. Die roh belassene, wenig heimelige hat, Jahrzehnte nach der unmittelbaren Bedrohung, angesichts derer sie errichtet wurde, als auf die elementare aggressions- und angstgeprägte Situation nur hinweisender Ort eine spezifische Faszination, die in der Differenz zwischen dem sicheren Boden, auf dem wir stehen, und den alt gewordenen Zeichen des Schreckens, die wir sehen, begründet ist. Die Bilder dieser Ausstellung sind von diesem Bunker inspiriert. Sie wurden gemalt, um an diesem Ort ausgestellt zu werden und sind hier so gehängt, dass die Wände mit ihren autoritären, aber aus der zeitlichen Distanz ästhetisch genießbaren Inschriften, sichtbar bleiben und aktiv teilnehmen. Die Bilder selbst, Gewalt und Schrecken bloß zitierend und diese nicht in der äußersten, nicht mehr überbietbaren Konsequenz darstellend, bewahren uns vor einem brutalen Schock, so dass wir sie anblicken können und sie uns.
Aggression ruft Angst hervor, Angst aber lässt aggressiv werden, eine sich steigernde, unheilvolle Spirale. In ‚Überlauf’ wird einer, so könnte man das Bild zu einer Geschichte auflösen, der von einer Kampftruppe zur anderen überläuft, von einem Lichtkegel angestrahlt und ertappt. Er hat Angst, ist aber auch bewaffnet und damit seinerseits ein Angreifer. Dieses konträre Ineinander fokussiert sich im Schatten, der seine Waffen plakativ vergrößert und, als Schatten, sein Entdecktwerden durch den Lichtstrahl offenbart. Ein zärtlich-leichtes Blaugrau verbindet diesen Schatten mit der Umgebung des Kreises bis zum Bildrand. Indem uns das tödliche Ende dieser Geschichte im Bild erspart bleibt, dass nämlich der Überläufer erschossen wird oder dass es ihm gelingt, andere mit seinen beiden Revolvern zu töten, eröffnet sich uns ein Denk- und Vorstellungsraum, in dem wir alternative Verläufe durchspielen können. Der Kreis möchte dann wohl auch eine Scheibe sein oder eine Sonne, dem geängstigten Revolverhelden Rettung verheißend.
Lessing schreibt in seiner grundlegenden ästhetischen Schrift ‚Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie’: „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet.“2
Bild und Bildtitel ‚Die letzte Kugel’ evozieren eine Geschichte von höchster Spannung, sei’s, dass der Schütze sich eben noch mit dieser letzten Kugel retten kann, indem er einen anderen trifft, sei’s, dass er selbst, nachdem er seine letzte verschossen hat, durch eine gegnerische Kugel zu Tode kommt. Sitnikov hat für sein Bild nicht den letzten Augenblick dieser Bildgeschichte gewählt, also, mit Lessing zu reden, nicht die höchste Staffel des Affekts, nicht den Moment, in dem Blut fließt und der Held krachend zu Boden fällt, sondern den Augenblick, in dem, da die verschiedenen Möglichkeiten des Ausgangs noch offen sind, die Phantasie ungebunden über den sinnlichen Eindruck hinaus kann.
Der Mann, der seine letzte Kugel abfeuert, verkörpert Angst und Aggression zugleich. Da jedoch nicht die finale, tödliche Konsequenz dieses Teufelskreises zu sehen ist, lässt uns das Bild nicht erstarren, vielmehr eröffnet sich in seiner Betrachtung unser Denken. „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können.“ Wir sind täglich Bildern ausgesetzt, die die gegenteilige Wirkung haben. Bilder sind heute Teil der Kriegführung, somit nicht etwa nur Illustration der Kriegsberichterstattung, sondern selbst zu Waffen geworden. Zu den fragwürdigsten Aspekten gegenwärtiger Bildproduktion und -verbreitung gehört in diesem Zusammenhang die Verübung schändlicher Gräueltaten um der Bilder willen, die dann millionenfach über den Globus geschickt werden. Die höchste Staffel des Affekts ist den Produzenten und Vermittlern dieser Bilder, denen der Betrachter kaum ausweichen kann, gerade gut genug.
Es kann der Kunst weder darum gehen, diese Bilder durch allerhöchste Staffeln der Affekte zu überbieten noch, sich in eine Wellness-Kultur idyllischer Bildwelten zurückzuziehen. Indem Vladimir Sitnikovs Bilder aus dieser fragwürdigen Alternative hinausführen, indem sie durch Zurückhaltung ein Innehalten, ein Nachdenken, einen Raum konkreter Phantasie eröffnen, erweisen sie, ihrem nostalgischen Zug zum Trotz und gerade mit diesem, ihren hohen Rang und ihre bleibende Aktualität.
Ulrich Kuder
1 Eugen Herrigel, Zen in der Kunst des Bogenschießens, Konstanz 1948, S. 10.
2 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1964 (Reclam Universal-Bibliothek Nr. 271), S. 23. Die Schrift war ursprünglich im Jahre 1766 in Druck gegeben worden.