Kieler Köpfe
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Vladimir Sitnikov: 20 Jahre Arbeit – geht so.
Zur Eröffnung der Ausstellung am 12.3.2015 im Bunker-D, Kiel
20 Jahre Arbeit – geht so. Das klingt immerhin nicht verzweifelt. Alles fließt. Formen, Zeichen, Bilder – ein Film: Gesichter, Masken und immer wieder ein Einschlag, ein Schuss, ein Punkt, kein Schlusspunkt, der den Fluss aufhalten könnte, vielleicht ein Fluchtpunkt, ein Element, eine Setzung, die nicht aus dem Strom der Zeit aufsteigt, ein Zirkelrund von anderswoher.
Für eine Sitnikov-Retrospektive über die letzten 20 Jahre, d.h. über die Zeit von 1995 an, seit seinem Wechsel von Moskau nach Schleswig-Holstein könnte es keinen passenderen Ort geben als die Fachhochschule Kiel, in deren Hauptgebäude, dank des Engagements ihres Kanzlers Klaus-Michael Heinze, drei große Arbeiten von Vladimur Sitnikov aus dem Anfang dieser Phase ständig präsent sind, darunter 'Terra incognita' und 'Alma mater', beide 1997 vollendet, in Salzau entstanden. Außerdem hängen im Bunker-D zwei seiner Arbeiten, unten im Filmraum und oben im Café.
Eine dem Werk Sitnikovs angemessene Retrospektive ist freilich in den schönen, aber eben doch beschränkten Räumenvon Bunker-D nicht möglich. Eine Auswahl war notwendig. Weggelassen wurden das bedeutende graphische Werk inklusive der Druckgraphik, die Künstlerbücher, die dreidimensionalen Arbeiten und viele Werke der Malerei. Hier in der Ausstellung sind Gemälde aus sechs Serien, sämtlich bereits aus dem 21. Jahrhundert, und zwar aus den Serien 'Hände hoch!', 'TV', 'Fluchtpunkte', 'Vaudeville', 'Kieler Köpfe' und 'Buchstaben'. Zur Ergänzung, um Einsicht zu bekommen in die Entwicklung des Künstlers über 20 Jahre hin, empfehle ich die Werke aus der Zeit vor der Jahrtausendwende im Hauptgebäude der Fachhochschule. Diese haben bereits viele Eigenschaften, die hier in der Ausstellung wieder auftreten, so etwa eine stumpfe Tönung, die an Wandmalerei denken lässt. Sie kommt von einem gewissen Wachsanteil im Malmaterial. Ferner bestehen bereits diese frühen Werke nicht für sich. Es handelt sich jeweils um mehrere Bilder, die dicht an dicht aufgereiht sind und sich so zu einer Einheit zusammenschließen.
Aber auch, wo Sitnikovs Bilder einzeln gehängt sind, – und das können wir hier in der Ausstellung gut beobachten – auch die für sich aufgehängten bieten keinen Ausblick durch einen rechteckigen Rahmen, keinen Fensterausschnitt der Wirklichkeit im Sinne des Frührenaissance-Künstlers, Intellektuellen und Universalgenies Leone Battista Alberti. Sie sind vielmehr ergänzbar wie die einzelnen Partien der bemalten Wände einer orthodoxen Kirche. Deutlich ist dies auch bei der neuen Serie von 2015 'Kieler Köpfe'. Nicht etwa nur aufgrund ihrer Themen und Motive: Bauskulptur, auch durch ihre stumpfe, nicht speckig glänzende Farbigkeit, durch die Ergänzbarkeit des einzelnen Bildes, seine Offenheit nach außen über den Bildrand hinaus gehören sie zur Wand und integrieren sich den Wänden des Bunkers-D, die als Wände sichtbar und greifbar sind. Im Unterschied zur Bildkonzeption Albertis , der das Bild mit einem offenen Fenster verglichen hatte, auf dessen Fläche die dreidimensionale Welt jenseits des Fensterrahmens projiziert und so auf die Ebene des Bildkörpers übertragen wird, versteht und behandelt Vladimir Sitnikov seine Bilder von vornherein als eine flächige Angelegenheit, die sich, Detail um Detail, in der Fläche fortsetzen. Während bei Alberti sich eine sogenannte Sehpyramide, vom Auge aus und im Auge gipfelnd, auf die Fläche, dieses vorgestellte Fenster, richtet und diesem Augenpunkt ein Fluchtpunkt im vorgestellten Raum jenseits des Fensters entspricht, sind Sitnikovs Punkte, seine sogenannten Fluchtpunkte, aufgesetzt, sie entsprechen nicht der Sehpyramide, konterkarieren und ironisieren diese vielmehr.
An einem einzelnen Bild malend, arbeitet er zugleich und eigentlich nur an einem einzigen Bild, sein Leben lang. 20 Jahre Arbeit – geht so, oder: so gehts! Fortschreitend, stockend, drängend, geschoben, gezogen aufbrechend, bewusst, unbewusst in der undurchdringlichen Zeit jenseits ihrer Messbarkeit, der Zeit, die nicht verrät, wohin sie geht und auch nicht, wo, ob innen oder außen, sie geht halt so.
Geschnitten und zusammengesetzt wie bei der Produktion eines Films und wie sich die Fragmente unseres Lebens in unserer Erinnerung immer wieder neu kombinieren, so fügen sich die einzelnen Bilder, die, wie gesagt, aus verschiedenen Serien stammen, aneinander. Sie sind, wie an ihren jeweils übereinstimmenden Höhenmaßen erkennbar, von vornerein so konzipiert, dass sie aneinander passen, 1,20 m hoch sind sie in diesem, 1 m im gegenüberliegenden Raum. Ihre Bedeutung changiert je nach den ihnen benachbarten Bildern. Der russische Filmtheoretiker und Regisseur Lev Vladimirovitch Kuleschov (* 1899, †1970 in Moskau) erkundete die Möglichkeiten, Bedeutungen einer Bildsequenz durch ihre Montage zu erzeugen. Er war der erste, der systematisch filmische Experimente zur Montage durchführte. Kuleschov ging 1929 sogar so weit, zu behaupten, dass es nicht so wichtig ist, wie die Einstellungen aufgenommen, sondern, wie sie geschnitten sind. Er sagt: „Das Wesen des Films muss nicht innerhalb der Grenzen des gefilmten Fragments gesucht werden, sondern in der Verkettung dieser Fragmente.“ Aus alten Filmen nahm er eine bestimmte Einstellung mit dem Schauspieler Mosschuchin und fügte diese – also stets dieselbe Einstellung – mit verschiedenen wechselnden anderen Einstellungen zusammen. „Zuerst“, so berichtet Kuleschov, „liess ich dadurch Mosschuchin scheinbar im Gefängnis sitzen, dann erfreute er sich an der Sonne, der Landschaft und der wiedergewonnenen Freiheit. […] Und das ist das Experiment, das als Kuleschov-Effekt bekannt geworden ist.“
Sitnikov hat beim Hängen der Bilder dieser Ausstellung mit dem Kuleschov-Effekt gearbeitet. Die Reihung der Bilder ist variabel. Was hier gezeigt wird, ist nur eine von verschiedenen Möglichkeiten, diese Bilder aneinanderzufügen, die der Künstler wahrzunehmen vermag. Wir als Betrachter haben weitere.
Im Nebenraum, oder, da wir ja in einer Galerie sind, im Kabinett, sind die Buchstaben und zwar sämtliche 33 Buchstaben des kyrillischen Alphabets so platziert, dass ihre Position verändert werden kann. Sie lassen sich neu zusammensetzen, zu Wörtern oder zu absurden Buchstabenverbindungen im Sinne der poetischen Sprache der russischen Futuristen, der Заумь- (Zaum'-)Sprache Velimir Clebnikows (1885-1922). Neben der Wand mit 32 Buchstaben steht dort der letzte, der 33. Buchstabe des kyrillischen Alphabets: я, zu deutsch: ich.
Dieses 'Ich' ließe sich nicht nur, begleitend und vervollständigend, der Buchstabenreihe, sondern auch der Bilderreihe an- und eingliedern, denn diese Bilder, diese Details sind solche des Künstlers, mit seinem Leben, auch mit den kaum noch bewussten, verbunden, in seiner Erinnerung aufscheinend.
Sitnikovs neue Reihe der 'Kieler Köpfe' basiert auf Beobachtungen an Kieler Gebäuden. Dieses Bild zum Beispiel mit dem hochmütig herabblickenden weiblichen Antlitz, das zwischen zwei anderen hängt, die ornamentalisierte Schlangenwesen zeigen, geht auf eine Bauskulptur vom alten Gebäude der 'Kieler Nachrichten' am Asmus-Bremer-Platz zurück, also dem Gebäude einer Institution, mit der man als Künstler in Kiel zwangsläufig zu tun hat. Anderes stammt aus der Umgebung der Holtenauer und der Feldstraße. Trotz der Kriegs- und Nachkriegszerstörungen ist Kiel immer noch voll Bauskulptur. Moskau übrigens auch.
Die Motive der Bildserie 'Vaudeville' sind dem Märchenfilm 'Lustige Burschen' assoziiert, einem Film mit Ljubow Petrowna Orlowa von 1934, mit dem sich die Schauspielerin Stalins Sympathien erwarb. Auch später noch wurde er oft gezeigt. Sitnikov hat ihn in seiner Jugend gesehen.
Das Medium, das Tor zur Welt der Bilder, insbesondere das Fernsehgerät, nimmt eine bedeutende Stellung im Werk Sitnikovs ein. Obwohl es sich bei den in seiner ‚TV‘-Serie dargestellten nicht um Geräte handelt, wie sie derzeit handelsüblich sind, erscheinen sie in seinen Bildern ohne nostalgische Patina. Wenn sie leuchten, dann eher beiläufig. Sitnikovs Blick ist ohne ein programmatisches 'Zurück zur Natur, zu den Ursprüngen!' Eher aus einer Notsituation heraus greift er nach den fragmentarischen Elementen, aus denen durch Erinnerung sein Ich sich konstituiert. In einer fremden Umgebung musste und muss er sich selbst finden, seit 20 Jahren. Er buchstabiert sein Alphabet, das kyrillische, vergewissert sich der geometrischen Formen, der Grundelemente der Malerei: Kreis, Quadrat, Kubus, Zylinder etc., die in verschiedenen seiner Gemälde auftauchen. Als solche thematisiert werden diese Formen in einem Bild, das drüben im Hauptgebäude hängt. Früh schon, 1997, findet sich in seinem Werk ein Schütze, ein Motiv, das dann in der Serie 'Hände hoch!', von der ebenfalls einige Beispiele in der Ausstellung vertreten sind, erscheint, und das, unmittelbar Gemälden der 'Vaudeville'-Serie, also des 'Lustige Kerle'-Films angefügt, diesen Bildern eine schräge, doppelbödige Pointierung verleiht.
Vladimir Sitnikov arbeitet konzeptuell, aber nicht programmatisch, entdeckungsfreudig, nicht zuletzt ausgerichtet auf die von ihm selbst noch unentdeckten Gefilde seines eigenen Lebens. Das Nicht-Forcierte seiner Kunst, ihr 'Geht so', 'Lassen wir‘s so' macht ihren Zauber aus. Weder zwingt er sich dazu, möglichst schnell zu arbeiten, um in unbewusster Spontaneität die Regungen seiner Seele auf die Leinwand zu bringen, noch geht er besonders langsam vor, um dann Meisterleistungen geduldiger Mühen präsentieren zu können. Er fördert von ihm in früher Kindheit und Jugend Gesehenes, Erfahrenes zutage, Bilder aus Filmen, gebrochen durch den TV-Player, Bauskulptur, also künstlich, künstlerisch Gestaltetes, Bilder, die auf Abbildungen in alten Bildbänden, wohl gar in Schulbüchern, zurückgehen, doch sind die Umsetzungen in seiner Kunst nicht von veristischer Schärfe. Frei von Kultur- und Medienkritik, sind sie nicht getragen von der affirmativen Aufforderung, sich dem zuzuwenden, was für natürlich gehalten wird. Obwohl gegenständlich, tragen sie keine Spur von naiver Malerei an sich.
Vladimir Sitnikov hat als Künstler und Theoretiker mit seiner Kunst in den letzten 20 Jahren eine wesentlich durch die große russische Literatur und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts geprägte Tradition neu formuliert und ihr Kiel geöffnet. Wir hoffen, dass in den nächsten 20 Jahren die Zahl derer, die ihm das danken, weiter wachsen wird.
Ulrich Kuder