Vaudeville |
Vladimir Sitnikov: Déjà vu?
Ulrich Kuder: Zur Eröffnung am 28.8.2014 im Offenen Kanal Kiel
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Schon mal gesehen? Ja, irgendwie schon, ich weiß nicht. Bilder sind Träume, die aus einer anderen Welt in die unsre hineinragen. Bei Vladimir Sitnikov erscheinen sie ohne Getöse, wie der Ton, den der junge Geiger hervorbringt, ohne dass ihm ein Bogen zur Hand wäre. Ihr Schritt ist geräuschlos wie der Schatten des Fliehenden mit der blauen Hand und ihre Farben sind voll und doch unaufdringlich wie die des Luftballons, den der Alte am Wegrand hält, wenn dieser Ballon nicht doch eine Sonne ist. 'Träume sind Schäume', sagt sich der Aufgewachte und schüttelt sie ab. Ihre Wahrheit holt ihn als Déjà vu ein. Hat er ihn nicht schon gesehen, den Zauberer mit dem eleganten Zylinder und der Halsbinde aus der Zeit des Ancien Régimes? Kennt er sie nicht seit den Tagen seiner ersten Liebe, die Blonde mit den vollen, geschürzten Lippen, aus deren Auge die Träne quillt? Ebenso die andere, schräg und mit scharfem Blick? Es sind Bilder, an denen man hängen bleibt wie an einem Rätsel, das zu lösen man nicht aufgeben kann. Hätte ich es gelöst und herausgefunden, woran mich das erinnert, wo ich das schon gesehen habe, ich wäre mir selbst auf die Spur gekommen, dem vergangenen Glück, den Hoffnungen, den verdrängten Ängsten.
In Vladimir Sitnikovs Bildern, die als materialisierte, fixierte Träume unsere verlorene Zeit wieder erscheinen lassen, wird die Vergangenheit weder idealisiert noch wird sie als Zukunftsvision, als Utopie propagiert. Was in diesen Bildern abgebildet sein könnte, bleibt offen, denn zwischen ihnen und dem, wovon sie Abbild sein könnten, liegen verschiedene Wandlungen, Brechungen durch verschiedene Medien, besonders durch den Malprozess. Die Titel der acht großen Bilder, 'Szene 1', 'Szene 2', 'Szene 3' etc. bis 'Szene 8' verweisen auf das Medium des Theaters, speziell auf das Vaudevilletheater, das, im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in Paris und in den USA en vogue, auch in Russland populär wurde. In einer lockeren Folge von Nummern, Gesang, Sketchen, Musik bietet das Vaudeville Unterhaltung für jedermann.
Doch haben wir in diesen Bildern nicht lediglich Wiedergaben einzelner Szenen aus einm Vaudeville-Programm vor uns. Ein Bild etwa wie 'Szene 1 (Eine Träne)' weist horizontale Streifen auf, eine Art Balken, der sich durch das hübsche Gesicht zieht. Das Bild ist offenbar auch durch das Medium Fernsehen mit seinen Bildstörungen hindurchgegangen, ehe Sitnikov es mt dem Pinsel gestaltet hat. Sinnreich ist das Motiv der Bildstörung eines Farbfernsehers so eingesetzt, dass das Gesicht der Blondine streifig geworden ist, nicht bloß blass, sondern grün, krank vor Liebesschmerz und Eifersucht. Der störende Balken zieht sich über ihre Augen und verhindert ihr den klaren Blick. Eifersucht macht blind. An ihren Rändern erzeugt die Bildstörung rote Striche, die wie gefährliche Schnitte das Gesicht tangieren. Die Malerei betreffend, lassen sich verschiedene Gattungen und auch bestimmte Kunstwerke assoziieren. Etwa die Gattung des Porträts en face, besonders des Kopfstücks, in den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert gepflegt als sog. Tronje. Charakterstudien dieser Art stellten meist anonyme Personen dar. Die Träne, bewusst aufgesetzt, durch Konturierung hervorgehoben, lässt an eine der erfolgreichsten Photografien Man Ray's, 'Tears', von 1930-32 denken – eine Photographie, die unter anderem das „echte“ Gefühl persifliert und als eine Metapher für die Künstlichkeit der Kunstproduktion gilt. Waren bei Man Ray die Tränen runde, auf die Haut aufgeklebte Plexiglasstüccke, so laufen sie in Roy Lichtensteins Bild 'Happy Tears' von 1964 von der Mitte der untern Wimpern herab.
Für Sitnikovs Konzeption bedeutsamer als Roy Lichtensteins Pop Art ist die Kunst der Theatermaler und Bühnenbildgestalter – Sitnikov selbst war als solcher in Moskau tätig, nach seinem Examen an der Akademie - und vor allem der Maler, die zu Sitnikovs Jugenzeit in Moskau über den Eingängen der Kinos groß in Bild und Schrift den gezeigten Film ankündigten. Diese Bilder mussten rasch entstehen, Sorgfalt im Detail war weniger gefragt. Das Bild 'Szene 1 (Eine Träne)' verdankt einen Teil seines Charmes dieser kunsthandwerklichen Bildproduktion, die Sitnikov hier bewusst als Stilmittel einsetzt. Das Fräulein hat ja nicht nur dadurch zwei sehr verschiedene Gesichtshälften, dass nur auf der einen die Träne herabläuft. Ihre rechte Augenbraue ist stark gebogen, schön geschwungen, während ihre linke aus einem einfachen geraden Strich besteht. Ihre Lippen sind rechts rot, links grün. An ihrem linken Ohr hängt ein sehr ausladendes Gehänge, das am rechten fehlt. Solche stilsicher eingesetzten oder beim Malen gefundenen und dann stehen gelassenen Unausglichenheiten zitieren eine rasche, palkative malweise, sie entsprechen dem sich rasch verflüchtigenden Fernsehbild, aber auch der Unsicherheit der Erinnerung: Ich erinnere mich sie gesehen zu haben, weiß aber nicht mehr genau, trug sie dabei ihre Ohrringe oder nicht.
Die Bildformate und die abgerundeten Ecken mancher Bildszenen lassen mehr oder weniger klar vermuten, dass es sich wohl um Wiedergaben von Fernsehbildern handeln dürfte. Bewusst wurden in diese Ausstellung außer den 'Szenen' Bilder von Fernsehgeräten einbezogen, und zwar von solchen älteren Datums. Diese Darstellungen sind individualisiert, die Marken lassen sich angeben: hier links ein Gerät der Marke 'Jantar' (gelb-grün), daneben, als ob die beiden sich beobachten wollten: 'Start' (Rosa in Grau), hinten im Gang 'Snamja', alles russische Fabrikate, wie sie in Sitnikovs Jugend in Gebrauch waren. So sehr diese Geräte hier als einzelne aufgefasst sind, gleichsam als Persönlichkeiten, sind sie doch auch Inbegriffsbilder eines Fernsehers schlechthin: nicht die heute üblichen Riesenformate, keine Fernbedienung, sondern schlichte Gebrauchsgegenstände, dienlich allerdings dazu, durch Knopfdrehung Bilder auf der Mattscheibe, aus dem Nichts, entstehen zu lassen.
Diese Einleitung durch die Téléviseurs 'Jantar' und 'Start', die gleichsam als ein Doppelpunkt gesetzt sind, verdeutlicht, neben die Hinweisen in den Bildern selbst, dass diese nicht Abbilder von Naturvorbildern sind, denn, ehe sie als Malerei Gestalt fanden, waren sie durch das Medium Fernsehen bereits verwandelt. Die Bilder selbst erklären auf diese Weise, dass sie gemacht, dass sie künstlich sind. Diese in der Bildtheorie viel besprochene Selbstreferentialität der Bilder, die übrigens ein Phänomen bereits der alten Kunst ist, wird bei Sitnikov gezielt verwendet. So zeigt etwa in dem Bild 'Szene 2 (Dame mit dem Scharfblick)' der schräg im Bild stehende Fernseher nicht nur an, dass dieses Bild das Bild eines Bildes, nämlich eines Fernsehbildes ist, das seinerseits künstlich produziert wurde, die Schrägstellung des Fernsehgeräts entspricht auch dem schräg auf uns gerichteten Blick der Dame. Vertrauensseligkeit ihr gegenüber ist, bei so viel Schiefheit, nicht angezeigt.
Déjà vu? Diese Frage stellt der Titel der Ausstellung. Haben wir die Bilder schon einmal gesehen oder bloß geträumt? Oder erträumt und nicht bloß gesehen? Eine Erinnerung, von der Sitnikov selbst ausgegangen war, ist die an den Film Βесёлы Ребята (Lustige Burschen), einen 1934 gedrehten Unterhaltungsfilm, eine Musical-Komödie in Schwarz-Weiß, in dem die Szenen wie die Nummern einer Show aufeinander folgten. Es war der in Stalins Auftrag geschriebene Debütfilm Grigori Alexandrows, des ehemaligen Assistenten Sergei Eisensteins, in den Hauptrollen Leonid Ossipowitsch Utjossow, Jazzmusiker und Schauspieler, und der Star Ljubow Orlowa. Mit eben diesem Film erlangte sie Stalins Sympathie. Hauptfigur ist ein Hirt, der mit seiner Herde aus Kühen, Ziegen, Schafen, Schweinen fröhlich singend durchs land zieht, auch mit von seinem Geigenlehrer geborgten Kleidern an einer Soirée in einem vornehmen Haus teilnimmt, dort für einen berühmten Komponisten gehalten wird und dem die Herzen zufliegen, nicht nur das der heiratsfähigen Tochter des Hauses, auch das des musikalisch, besonders im Gesang, begabten Dienstmädchens. Vor dem Happy End, das sich vorhersehen lässt, fliegt seine Täuschung unter anderem dadurch auf, dass seine umfangreiche Herde in den Garten und die Villa einbricht, die Möbel umwirft und sich an den Speisen und Getränken, zumal an den alkoholischen, gütlich tut. Dieser Film, der mit Motiven westlicher Filmindustrie arbeitet und sich an Hollywood, das Alexandrow zusammen mit Eisenstein kennengelernt hatte, mit ironischer Distanz orientiert, wurde zu einem auch nach der Stalinzeit gern als Fernsehfilm gesendeten Klassiker.
Keines der Bilder Sitnikovs enspricht exakt einem der des Films 'Lustige Burschen'. Wohl lassen sich vergleichbare Situationen und Konstellationen erkennen. Etwa in 'Szene 7 (Verwandtschaft)' die heiratsfähige Tochter, die, träumerisch, einen Ehering hochhält, hinter ihr die Mutter, vom Wunsch beseelt, das Mädchen unter die Haube zu bringen. Oder 'Szene 6 (Leicht verzerrtes Gesicht)' das Erstaunen bzw. Erschrecken eines der Teilnehmer an der festlichen Abendveranstaltung, als die Tiere von dem Anwesen Besitz ergreifen. Sitnikov vermeidet genauere Hinweise auf den Spielfilm – der Hirt ist in seinen Bildern nicht als Hirt identifizierbar, zumal bei ihm keine Tiere vorkommen. Er gibt, was er in seiner Kindheit in der Traumfabrik Kino und Fernsehen in Schwarz/Weiß wahrgenommen hat, verwandelt wieder. Als Schwabe und irgendwie auch, als Hegelianer, möchte ich sagen: Sitnikov hebt diese Bilder von einst auf, in jenem dreifachen Sinn, der vielleicht nur dem Sprachgebrauch des Schwäbischen voll entspricht.
Zum einen hebt er sie auf, indem er sie durch mehrere Medien bricht, sie ihrer ideologischen Substanz, ihres Charakters als Ablenkungs- und Einlullungsmanöver, als Opium des Volkes, entledigt, sie also aufhebt, so wie ein Vertrag, eine Vereinbarung aufgehoben wird: 'aufheben' im Sinne von 'auflösen', 'abschaffen'.
Zum andern hebt er die Bilder aus den 'Lustigen Burschen' auf, indem er sie, verwandelt, aufbewahrt, in dem Sinn wie die Mutter zu ihrem Kind, das ein Geschenk bekam, sagt: 'Des musch aber aufhebe bis Weihnachte!' Sitnikov bewahrt die Bilder auf durch die Umsetzung in ein anderes, beständigeres Medium, das der Malerei, das nicht wie ein Fernsehbild entschwindet, aber auch, indem er ihrer Wandlungsfähigkeit, ihrer Mehrdeutigkeit und damit ihrer Wahrheit nachspürt: 'Szene 4 (Geheimnisvolle Erscheinung)' zum Beispiel: Flieht der rätselhafte Mann, dessen Schatten, der nicht seiner Figur entspricht, sich selbständig zu machen scheint, oder ist er selbst ein Verfolger, der Ungutes im Schilde führt? Sind die farbigen Flecke auf dem Boden, die bunter sind als er, totes Laub oder sind sie dabei, Gestalt zu werden, sich zu erheben, mit ihm oder gegen ihn, den Finsteren? Oder 'Szene 7 (Verwandtschaft)': Obwohl mit dem Ring in der Hand des Mädchens Hoffnung sich verbindet, sind die Farben dieses Bildes eher dunkel: Zweifel am Sinn des Ehebandes werden damit angedeutet. 'Szene 8 (Das Lächeln)' daneben ist ebenfaalls mehrdeutig. Fletscht hier einer unter der Maske de Lächelns die Zähne?
Drittens hebt Sitnikov die Bilder des Films 'Lustige Burschen' auf, indem er sie nach oben hebt. 'Hebs auf!' heißt es, wenn etwas zu Boden fiel. Dass Sitnikovs Bilder eine Erhöhung bedeuten, lässt sich hier, in den durch sie geadelten Räumen des Offenen Kanals Kiel unmittelbar wahrnehmen, leider nur für die Dauer von zwei Monaten. Ich denke, sie bewirken etwas, auch bei denen, die, mehr oder weniger achtlos, an ihnen vorbeigehen. Déjà vu? Das kenne ich doch. Kenne ich mich?
Die Ausstellung ist damit eröffnet.
„Vaudeville“ – Ölbilder (2008)
Ausstellung in der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, Kiel und in Brache
Das Vaudeville ist ein ursprünglich Pariser Theatergenre mit Gesang und Musik, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Russland sehr populär wurde. Die leichten, kurzen Stücke, häufig Improvisationen, wandten sich im Theater an ein breiteres Publikum. Über das Medium Film wurden sie zu einem wichtigen Faktor der Unterhaltung im Rahmen der sowjetischen Massenkultur. Jedes Bild aus dem Zyklus „Vaudeville“ steht für ein Zitat, für eine „stereotype“ Kurzgeschichte. Der Film wird immer wieder für einen Augenblick auf seiner Leinwand angehalten. Die Szenen - eingerahmt von angedeuteten Fernsehbildschirmen, als Bild in Bild - zeigen den Beginn von Handlungen und Situationen, welche ihren Ursprung sowohl im Film als auch im Leben des Zuschauers haben und die ihre Vollendung in der individuellen Erfahrung des Betrachters finden.
„Vaudeville“ ist in dem thematischen Zusammenhang der Popkultur mit Ausstellungen wie „Cars and Girls“ (Guelman-Galerie Moskau, 1993), „Telefon“ (Krokin-Galerie Moskau, 2002), „Individual things“ (Krokin-Galerie, Moskau, 2003) oder „TV“ (Offener Kanal Kiel, 2007 und Krokin-Galerie Moskau, 2008) zu sehen. Die „TV-Bilder“ wurden auch in dieser Ausstellung erneut gezeigt – aus gutem Grund: Die stummen, blinden Fernsehgeräte stehen für die materielle Seite der Malerei, während der Zyklus „Vaudeville“ ihre illusionistische Wirkung repräsentiert.