Zentauren
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Vladimir Sitnikov: „Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“
Ausstellungseröffnung
Hermann Ehlers Akademie; Kiel, 30.1.2018
Einführung: Ulrich Kuder
Die Arbeiten dieser Ausstellung sind vergleichsweise jüngeren Datums, die ältesten, Kieler Nachrichten und Kieler Köpfe, sind von 2014, die jüngste, die Rollzeichnung Nature morte, ist aus dem vergangenen Jahr.
Ein kluger Mensch hat einmal bei einer Ausstellungseröffnung von Werken Vladimir Sitnikovs gesagt: „Je länger er in Kiel ist, desto russischer wird er.“
Dem scheinen die Kieler Nachrichten und die Kieler Köpfe zu widersprechen.
Die Titel geben vor, dass die Arbeiten etwas mit Kiel zu tun haben. Stimmt das? Gewiss, den Kieler Nachrichten, also dem schräg von unten gesehenen Frauenkopf mit den Ohrgehängen, dem die beiden Bilder mit den drohend glotzenden Ungeheuern mit gewaltigen Ohren und den sie umtändelden Nixen zugehörig sind - wobei die eine Nixe, in den Armen eines Molochs gefangen, einen bemitleidenswerten Eindruck macht -, dieser Dreiergruppe liegen tatsächlich Skulpturen vom Außenbau des alten Gebäudes der Kieler Nachrichten am Asmus-Bremer-Platz zugrunde. Auch die anderen, die Kieler Köpfe, der männliche Kopf mit der Hakennase und der weibliche neben der Dachrinne sind in Kiel zu finden. Bekannt sind diese Köpfe in Kiel allerdings nicht. Vladimir Sitnikov hat diese Bauskulptur gesehen, fotografiert und sie in Malerei verwandelt. Dies freilich nicht als Anregung für einen Stadtführer mit dem Titel ‚Unbekanntes Kiel‘. Solche Skulpturen sind in Europa weit verbreitet. Es gibt sie in Wien, in Brüssel, Prag, Riga, in St. Petersburg und Moskau und vielen anderen Städten – sämtlich Gebilde aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Sitnikov war immer schon von ihnen fasziniert, schon in Rußland, längst ehe er nach Kiel kam, was inzwischen weit über zwanzig Jahre her ist. Sie sind also nicht typisch für Kiel – trotz der dem Meer entstiegenen Nixen.
Woher kommt diese Faszination? Diese Skulpturen stehen in einer sehr alten Tradition magischer Abwehr von Unheil. Sie sind zum Schutz der Gebäude angebracht. Die wilden Masken, aber auch die kühl und streng blickenden Frauenköpfe, auch die Nixen mit ihren Fisch- oder auch Schlangenleibern sollen Dämonen vom Gebäude fernhalten, nach dem Prinzip: Ähnliches wird durch Ähnliches abgewehrt. Das in Stein gemeißelte Ungeheuer ist gegen die lebendigen Dämonen, aber auch gegen die menschlichen Ungeheuer gerichtet, die von außen in das Gebäude eindringen und seine Ruhe stören wollen. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als solche Bauwerke mit diesem Skulpturenprogramm in Kiel und anderswo errichtet wurden, war man sich der ursprünglichen, der Abwehrfunktion dieser Gebilde nicht mehr wirklich bewusst, man glaubte nicht mehr so richtig an die magischen, das Unheil bannenden Kräfte, rechtfertigte die Masken und sich schlängelnden Ranken als Bauschmuck, Ornament, bis dann Adolf Loos mit seiner These ‚Ornament ist Verbrechen‘ (1908) diese ganze fragwürdig gewordene Maskerade einer letztlich durchschlagenden und erfolgreichen Kritik unterzog.
In Vladimir Sitnikovs Malerei werden diese Unholde, Fratzen und kühl abweisenden, reich geschmückten Masken wieder lebendig, zugleich aber verstärkt er auch die ironische Distanznahme zu ihnen, zum Beispiel, indem er das blaue Regenrohr, das neben der Kartusche mit dem Frauenkopf entlang führt, mit ins Bild nimmt, auch, indem er den bannenden Blick dieser Masken, ihre breiten Zahnreihen, ausladenden Ohren übertreibt und dadurch lächerlich macht, oder, indem er die Köpfe schräg von unten angeht und so deren magischen Blick ins Unbestimmte gehen lässt. Dass beides sich in diesen Bildern vereinigt, ist erstaunlich. Das Wiederaufleben uralter dämonischer Macht, der der Mensch längst entronnen zu sein glaubte, und deren Brechung, die zu einem spielerischen Umgang mit den ursprünglich angstbesetzten Bildmotiven führt.
In Sitnikovs Malerei lernen die steinernen Löwen sich zu bewegen als wären sie lebendig. Diese wilden Tiere, die einst, selbst an den Bau gebunden und somit gefangen, das Haus vor allem Übel beschützten, nähern sich als gemalte zutraulich wie Haustiere, so dass sie als wirkmächtige Hüter nicht mehr ernst genommen werden.
Schließlich die beiden pathetisch auftretenden Kentauren, der junge und der alte, die Sitnikov in Malerei umgesetzt hat, auf der Grundlage von Fotos, die er vor Jahrzehnten im Park von Pawlowsk bei bzw. in St. Petersburg geschossen hatte. Diese Kentauren sind Mischwesen wie die Nixen, doch von gewaltiger Stärke – ich erinnere nur an Michelangelos Kentaurenschlacht, den Kampf zwischen Lapithen und Kentauren. Im Park von Pawlowsk schützen sie eine Brücke. Sie sind gut 100 Jahre älter als unsere Kieler Köpfe. Der Park von Pawlowsk war im späten 18. Jahrhundert von dem späteren Zaren Paul I., der durch seinen Vater Peter III. auch Herzog von Holstein-Gottorf war, und von seiner Gemahlin Maria Fjodorowna angelegt worden. Ich will die Tragödie der Russisch-Holstein-Gottorfschen Beziehungen nicht weiter vertiefen. Beide, Peter III. und sein Sohn Paul I. - oder auch nicht wirklich sein Sohn, jedenfalls der Sohn von Peters Gemahlin Katharina der Großen –, sind übrigens ermordet worden.
Die beiden Kentauren im Park von Pawlowsk demonstrieren nicht nur Stärke, sondern, in Sitnikovs Malerei durch Farbe und Farbnuancen verdeutlicht, den Unterschied zwischen der Jugend, die hell und im Aufbruch, mit ausladender Gebärde, und dem Alter, das dunkel und traurig ist, zurückblickt und den rechten Arm hinter den Rücken schiebt, als wäre es gefesselt.
Was geschieht, wenn solche Skulpturen in Malerei verwandelt werden? Im späten 15., im 16. und im frühen 17. Jahrhundert wurde der „Wettstreit der Künste“ (Paragone delle arti) ausgefochten. Man spielte Skulptur und Malerei gegeneinander aus und fragte, welcher der beiden Künste der höhere Rang zukäme. Leone Battista Alberti sprach der Malerei den Primat zu und selbstverständlich schlossen sich die Maler dieser Meinung an, Dürer etwa, auch Leonardo. Michelangelo, der Bildhauer schlechthin, gab, obzwar er ja auch malte, der Skulptur den Zuschlag. Nach seinem Tode wendete sich das Blatt. Das alles ist heute kaum noch von Interesse, nur scheint mir ein Argument, das damals zugunsten der Malerei ins Feld geführt wurde, bedenkenswert. Leonardo stellte den Bildhauer und den Maler einander gegenüber: „[…] bei der Arbeit an seinem Werk hat der Bildhauer mit Armkraft und Hammerschlägen den Marmor, oder sonstigen überflüssigen Stein zunichte zu machen, der über die Figur, die in ihm eingeschlossen ist, hervorragt; das ist ein sehr mechanisches Geschäft und ist von großem Schweiß begleitet, der, mit Staub vermengt, zu Schlamm wird. Da hat er das Gesicht ganz beschmiert und mit Marmorstaub eingepudert, so daß er wie ein Bäcker ausschaut, und ist mit kleinen Marmorsplittern über und über bedeckt, daß es aussieht, als hätte es ihm auf den Buckel geschneit, und seine Behausung, die ist voll Steinsplitter und Staub. Ganz das Gegenteil von alle diesem ist beim Maler der Fall, - wir sprechen hier nur von ausgezeichneten Malern sowohl als Bildhauern. Denn der Maler sitzt mit großer Bequemlichkeit vor seinem Werk, wohl gekleidet, und regt den ganz leichten Pinsel mit den anmutigen Farben. Mit Kleidern ist er geschmückt, wie es ihm gefällt. Und seine Behausung, die ist voll heiterer Malereien und glänzend reinlich.“1 Der fatica del corpo (Verausgabung, Ermüdung des Körpers) des verschwitzten Bildhauers stellt Leonardo die fatica del mente (geistige Verausgabung) des Malers gegenüber, der mit leichtem Pinsel den Eingebungen seines Geistes folgen kann, ohne mit den Hindernissen des Materials, mit der Härte des Steins kämpfen zu müssen.
Ich möchte nicht fragen, durch wieviel fatica, wieviel geistige und körperliche Verausgabung die Malerei Vladimir Sitnikovs zustande gebracht wurde. Jedenfalls ist seinen Werken diese Anstrengung nicht anzumerken. Die Möglichkeiten der Malerei, etwa einen Fisch- oder einen Pferdeschwanz, eine Blattranke weiter ausschwingen zu lassen, sie zierlicher und beweglicher zu gestalten, ohne auf die Brüchigkeit des Materials achten zu müssen, die Möglichkeiten farbiger Nuancierung, der Verlebendigung durch Farbe hat er ausgelotet und voll ausgenutzt.
Die Malerei kann nicht nur die Bildgegenstände, sondern auch deren Umgebung gestalten. Sitnikov versteht Malerei, seine Malerei als bemalte Wand. Die bemalte Fläche ist prinzipiell fortsetzbar und sie ist materiell, die Ölfarbe, die Leinwand nicht weniger als die Wand als Bildträger.
Mit den Kieler Nachrichten und den Kieler Köpfen setzt er Skulpturen, die an der Wand, mit den Kentauren von Pawlowsk solche, die im Freien sind, in Malerei um. In beiden Fällen werden alte, unbeachtete, verdrängte Artefakte in der Malerei und mit deren Möglichkeiten zu neuem Leben erweckt.
Die Reihe Selbstbildnis – Alphabet aus den Jahren 2013-2017 verfährt nicht anders. Dass Buchstaben als solche tot sind, wissen wir. Das Alphabet sagt nichts aus. Erst die Zusammensetzung der Buchstaben zu Wörtern ergibt einen Sinn. Dies wird durch die Aneinanderreihung der 33 Buchstaben des kyrillischen Alphabets in der alphabetischen Reihenfolge verhindert. Statt dessen werden die Buchstaben selbst, diese toten Zeichen ohne Bedeutung, durch die Malerei vitalisiert. Das Alphabet hat eine alte Geschichte. Doch ist die Reihung der einzelnen Buchstaben von A bis Я nicht begründet. Es handelt sich um eine Konvention.
Mit seinen Selbstbildnissen bezieht sich Sitnikov auf die Tradition des Künstlerselbstbildnisses. Entstanden ist eine Vielfalt verschiedener, jeweils vom Augenblick abhängiger Porträts. Insofern, im Hinblick auf die beliebig fortsetzbare, nur zufällig durch die Zahl 33 des Alphabets begrenzte Reihe der Porträts ist es berechtigt, für den Titel der Ausstellung den des Buches von Richard David Precht ‚Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise‘ zu zitieren. Jedoch fehlt den Selbstporträts Sitnikovs das Pathos der Frage: ‚Wer bin ich?‘ Das Selbstbildnis als Ergebnis einer Selbstbefragung des Künstlers wird bei Sitnikov konterkariert. Seine Selbstbildnisse sind nicht inszenierte Selbstdarstellungen des Künstlers: stolz, verzweifelt, bedrückt etc., in die der Betrachter sich mit Empathie hineinzudenken hätte. Wir sollten keine Aussagen des Künstlers über sich in ihnen suchen. Diese Selbstbildnisse beantworten nicht die Frage: ‚Wer bin ich?‘ Es sind Momentaufnahmen, die Sitnikov dem vor ihm aufgehängten Spiegel entnommen hat, sperrig wie die Buchstaben, geprägt und doch lebendig, ohne tiefere Bedeutung. ‚Wer bin ich?‘ ist eine Frage, die ins Leere geht. Sie ist ehrlicherweise nicht beantwortbar. Sitnikov lässt diese Frage hinter sich. Sie ist übrigens grundverschieden von der Frage Kants: ‚Was ist der Mensch?‘, in die seine drei Fragen münden: ‚Was kann ich wissen?‘, ‚Was soll ich tun?‘ und ‚Was darf ich hoffen?‘
Die Arbeit Selbstbildnis – Alphabet hat eine ihrer Wurzeln in Sitnikovs Ausbildung zum Buchgestalter. Sie ist mit mehreren seiner Arbeiten eng verbunden. Ich denke vor allem an Arbeiten, in denen Sitnikov den Geist des Aufstands, der in den Buchstaben liegt, erprobt hat, so zum Beispiel mit lesen + essen = Russisch Brot im Jahr 2000 in der Hellen Zelle in der Medusastraße und 2012 mit der Kunstaktion Lautbilder im hiesigen, als Schwimmbad bereits aufgegebenen Lessingbad. Diese Aktion hieß im Untertitel Zwölf tragbare Bilder zum Protestieren, Manifestieren und Meditieren. Diese zwölf Tafeln mit jeweils einem Buchstaben des kyrillischen Alphabets bildeten keine Worte und schon gar keinen Satz, ebensowenig wie die Tafeln mit Buchstaben in Sitnikovs Ausstellung BILDERSATZ in der Universitätsbibliothek und in der Ausstellung Bukvy – Muttersprache, beide 2013. Alles Buchstaben, die sich ihrer sinnerzeugenden Zusammensetzung verweigern. Ihr Protest beruht nicht darauf, dass sie provokante Parolen ergeben, vielmehr darauf, dass sie nicht das tun, was sie sollen. Eigentlich auf Beutung hin angelegt, bleiben sie bedeutungsleer. Diese Leere macht ihr Geheimnis aus. Darin sind sie Malevitschs ‚Schwarzem Quadrat auf Weißem Grund‘ verschwistert, einer Inkunabel der Moderne, ihrem Leitstern und Orientierungspunkt, einer Bezugsgröße besonders auch für Vladimir Sitnikov, wobei über das ‚Schwarze Quadrat auf Weißem Grund‘, über seine Tiefe als Meditationsgegenstand, seine Undurchdringlichkeit, Unendlichkeit auf begrenzter Fläche usw. gewiss viel gesagt werden kann, nicht aber, dass es gut gemalt sei. Darin aber, dass sie gut gemalt sind, unterscheiden sich Sitnikovs gemalte Buchstaben von Malevitschs ‚Schwarzem Quadrat auf Weißem Grund‘. Farbe, ein Reichtum von Nuancen nahm das Vakuum in Besitz, welches das Bedeutungsdefizit dieser Buchstaben hinterlassen hatte. Reine, sinnleere Zeichen, sind sie durch ihre Farbe mit dem Grund, aus dem sie als Figuren hervorkommen, lebendig verbunden. Ich meine, dass gute Malerei nicht anders denn als lebendige gedacht werden kann.
Buchstaben sind fest geprägt. Eine Veränderung ihrer Gestalt macht sie unleserlich. Durch Sitnikovs Malerei werden sie zu Individuen. Ebenso sind die einzelnen Selbstbildnisse fest, zeichenhaft, intransigent. Ihre Reihenfolge ist beliebig. Durch ihre Kombination mit je einem Buchstaben wird auch die Beliebigkeit der Buchstabenfolge des Alphabets verdeutlicht. Sitnikovs charakteristische Farbpalette, an der seine Bilder erkennbar sind, breitet sich über die zweimal 33 Tafeln aus, bei jedem Bild wieder anders. Im Einzelnen und im Ganzen sind diese Porträt-Buchstaben-Paare sehr wohl bewusst zusammengestellt.
Schließlich seine letzte, erstaunliche Arbeit, die Rollzeichnung Nature morte, Graphit, Filzstiff und Aquarell auf Papier. Totes Material, das dem Künstler ins Auge sprang. Jedes Stück für sich genommen, mal vergrößert auf die Rolle gebracht, selten verkleinert, Strandgut, ein toter Vogel, kleine Äste, Früchte, jedes Stück mit seinem eigenen Schatten. Eine Bilderschrift, die nicht entziffert werden kann. Allein das Tote bleibt. Das Tote allein kann wieder lebendig werden. Das Tote wird zum Zeichen, zu einer Schrift wie am Anfang, Keilschrift, Hieroglyphe. Zeichen, die nichts bezeichnen außer sich selbst.
Indem diese Ausstellung die Summe zieht aus Vladimir Sitnikovs Arbeiten der letzten Jahre, zeigt sie: Er wurde immer russischer, aber auch immer malerischer, und das heißt: immer geistiger und, zumindest scheinbar, immer müheloser.
Ulrich Kuder
1 Leonardo da Vinci, Traktat von der Malerei. Nach der Übersetzung von Heinrich Ludwig neu herausgegeben und eingeleitet von Marie Herzfeld, Jena 1925, S. 33.