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"Ergänzungen / Дополнения", 2013 - 2016, Öl auf Leinwand
Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Die Hermann Ehlers Akademie zeigt Bilder Vladimir Sitnikovs
Von Hannes Hansen
Kiel. „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ fragte vor ein paar Jahren der Pop-Philosoph Richard David Precht. Der seit zwanzig Jahren in Kiel lebende Vladimir Sitnikov beantwortet die provokante Frage auf seine, auf malerische Weise mit dem Mittel des Selbstporträts als Erforschung des künstlerischen Ichs. Zu sehen sind sie in der gleichnamigen Ausstellung in der Hermann Ehlers Akademie.
Zwei Besonderheiten freilich hieven das altehrwürdige, steifbeinig gewordene Genre entschlossen und mit Aplomb in die Moderne. Zum einen porträtierte Vladimir Sitnikov sich zwischen 2013 und 2015 gleich dreiunddreißig mal in wechselnden Posen. So zeigt er sich einmal als zorniger junger Mann, ein anderes Mal gibt er den ernsthaften Jüngling, dann wieder den vor der Leinwand sinnierenden Künstler in ironisch abgewandelter Malerpose in der Nachfolge eines Velazquez etwa oder Egon Schieles. Oft aber bleiben die Bilder stumm, antworten sie dem Betrachter ebenso wenig wie wohl dem Künstler selbst. Die zweite Besonderheit: Vladimir Sitnikov kombiniert seine Selbstporträts mit den dreiunddreißig Buchstaben des russischen Alphabets.
Malerei als Konzeptkunst
Mit diesen beiden Mitteln, der seriellen Auffächerung des Ichs und der Bildwürdigkeit des Alphabets, bringt Sitnikov auf geradezu spielerische, dabei durchaus ernsthafte Weise zwei scheinbar diametral entgegengesetzte Kunstrichtungen in einem Bild zusammen: die „reine“ Malerei und die Konzeptkunst. So wie sich aus den für sich genommen bedeutungslosen Buchstaben alle bedeutungsschweren Wörter der russischen Sprache kombinieren lassen, erlaubt die Verbindung mehrerer Bilder die Erstellung eines Porträts im Auge des Betrachters, der – ganz im Sinne der Moderne – dieses Porträt erst „erschafft“. Ein solches „Selbstbildnis als Alphabet“ bleibt freilich flüchtig, vom Gesetz des Zufalls generiert, denn eine Unzahl anderer Kombinationen ist ja gleichfalls denkbar.
Dazu ein Vorschlag: Man nehme ein russisches Wort, „Mir“ vielleicht, zu Deutsch „Frieden“, setze die dazu gehörigen Bilder zu einem Triptychon zusammen und bestaune das Ergebnis. Ein Spiel für Kinder und jung gebliebene Erwachsene. (War nur so eine Idee.)
Kieler Nachrichten, Kieler Köpfe, Löwen und Zentauren
Außer der ironisch grundierten malerischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich präsentiert Vladimir Sitnikov in der Hermann Ehlers Akademie großformatige Gemälde der Reihen „Kieler Nachrichten“, „Kieler Köpfe“, „Löwen“ und „Zentauren“. Sie zeigen, oft ebenfalls in ironisch abgewandelter Form, Sandsteinskulpturen, wie der Maler sie am Gebäude der Kieler Nachrichten, in der Holtenauer Straße, in einem Park bei St. Petersburg oder im Kieler Schlossgarten entdeckt hat. Diese Masken, Ungeheuer, Fabelwesen, bis zur frühen Neuzeit oft als Abwehrzauber gegen Dämonen und anderes Unheil gedacht – „Gleiches bekämpft man mit Gleichem“ –, verloren im Zeitalter der Aufklärung und im nachfolgenden Jahrhundert ihre „apotropäische“ Wirkung und bekamen eine reine, eigentlich banale Schmuckfunktion, bis der Wiener Adolf Loos sie aus der Architektur verbannte.
Auf den Bildern aber scheint der Schrecken, den sie einst und heute nicht mehr ebenso verkörperten wie bannten, in gewandelter Form als Geheimnis wiederzukehren. In den Zentauren leben Kraft und Gewalt, die Löwenköpfe wirken bedrohlich, ein Frauenkopf herrisch abweisend und komisch zugleich.
Eigenständige Handschrift
Eine ganz eigenständige künstlerische Handschrift zeichnet Vladimir Sitnikovs tonige Malerei in meist gebrochenen und gedämpften Farben aus; unverwechselbar die autonom, oft ausgesprochen kontrastiv im Wechsel von Grün und Rosa etwa gegeneinander gesetzten Farbflächen.
Nature morte als Fries
Im Eingangsbereich der Hermann Ehlers Akademie begrüßen den Besucher „Rollzeichnungen“, ein den Raum umlaufender Papierfries, der – als Aquarell gemalt, mit dem Bleistift, dem Filzstift einmal akribisch genau, dann wieder eher flüchtig gezeichnet – triviale Fundstücke wie Zweige, Knochen, Holzscheite und andere tote Dinge als „nature morte“ zeigt. Dieser Fries evoziert parodistisch die großen Götter- und Sagenfriese an griechischen Tempeln. Mein alter Lateinlehrer hätte lakonisch „tempora mutantur“ dazu gesagt, die Zeiten ändern sich. „Et nos in eis“, wir in ihnen eben auch. Ist nix mehr mit Grandeur und Täterä.